Die Angst des Kindes durchzieht unsere Gesellschaft

Die Angst des Kindes durchzieht unsere Gesellschaft
Sunday 24 September 2006

Sehr geehrte Alice Miller!
Ich beziehe mich auf Ihre Antwort auf den Leserbrief “Schwarze Pädagogik” vom 20.September eines Lesers.

Warum erwarten Sie von mir, dass ich dorthin schreibe, statt selber dies zu tun? Ich schreibe ja seit Jahren darüber. Doch die Zeitungen sollten erfahren, dass ich nicht die einzige bin, dass nicht alle Leser sich für dumm verkaufen lassen und dass manche bereits die unbewusst angebotene Grausamkeit der Schwarzen Pädagogik bereits besser durchschauen als die Redakteure der Zeitungen.

Ja, so ist es, nicht nur Sie, sondern alle, die sehen, was passiert und wünschen, daß sich das ändert, sollten in ihren ihnen bestehenden Möglichkeiten versuchen, die Dinge anzusprechen. Und dabei ist tatsächlich die Angst vor den verinnerlichten Eltern noch oft hinderlich, man fürchtet vordergründig die Verstoßung derjenigen, die man darauf ansprechen will. Aber da erfordert es wirklich unbedingten Mut, und das klare Aussprechen der Tatsachen, um der Kinder willen, die soviele nicht mehr einfühlen können aufgrund eigens vergessener oder nie gefühlter Kindheitsgefühle, man muß unbedingt sobald man es selbst erfühlt hat, es aussprechen. Denn nicht nur Sie können das allein leisten, damit wären Sie ja überfordert. Dennoch bin ich Ihnen so dermaßen dankbar für Ihre Schreiben, mit denen die Menschen wieder an ihre Wahrheit gelangen können und der Stein ins Rollen gebracht wird beim oder anderen.

Warum wird niemals empfohlen, das Kind nach seinen Gefühlen zu befragen anstatt es zu bestrafen (z.B.: Weshalb willst du nicht zur Schule, hast du vielleicht Angst? kann ich dir helfen, deine Angst zu verstehen?).

Das ist wirklich aberwitzig: Kindern wird tatsächlich untersagt, verstanden zu werden, aber wenn sie erwachsen sind und unter den Folgen leiden, dann wird von den erwachsenen Menschen doch seltsamerweise tatsächlich verlangt, diejenigen zu verstehen, von denen sie damals nicht einmal versucht worden, zu verstehen, von denen sie haltlose Konsequenzen erfahren mußten, aber diejenigen müssen dann als Erwachsene von den Konsequenzen (zB Rückzug, oder Kritik) geschont werden, man soll sie verstehen und sie vor den womöglich aufkommenden Schuldgefühlen abhalten. Das ist ja nicht nur Usus von den in der Kindheit verletzten Menschen ihren Eltern gegenüber, aus ihrem inneren Kind heraus, sondern auch von den der ganzen Umgebung und Experten. Das ist wirklich aberwitzig.

Ich verstehe Ihre Schreiben. Seitdem fällt mir immer wieder auf, wie durchzogen unsere Gesellschaft davon ist, von dem Blickwinkel des kleines Kindes, das nicht sehen darf. Und selbst noch immer nicht meine Kindheitstraumata aufgearbeitet, auch weil noch keinen fähigen Therapeuten gefunden, stehe da und staune nur, aber kann noch nicht viel tun, außer zu den Menschen im Kleinen zu reden, die noch ansprechbar sind. Aber gesund bin ich selbst noch nicht, der Kontakt zu meinem inneren Kind macht mir noch immer Angst. Aber es wird, und das Lesen Ihrer Schreiben zB hilft immer wieder. Immerhin habe ich seit einiger Zeit konsequent keinen Kontakt mehr zu den Menschen, bei denen mein Leid anfing, trotz der Stimmen meines inneren Kindes, welches noch nicht wahrhaben will, welches ich noch nicht so ganz traue, zu erreichen, da der Schmerz und Schrecken sehr stark ist. Aber ich glaube, daß es wird. Und bin konsequent in der Erhaltung des Wissens, das auch sie vertreten. Die Hoffnung gebe ich nicht auf. Das Loslösen von den Menschen, die mich kaputtmachten, noch zu machen versuchen würden, das heißt ja auch eine Loslösung meiner bisher angewöhnten Persönlichkeitsstruktur, und da braucht es wohl auch Zeit, die alten Schuldgefühle, Illusionen abzubauen, und Mut, die neuen wachsen zu lassen. Ich frage mich dennoch manchmal, ob das Erlernen neuer Gedanken, Verhaltensweisen, und Medikamente wirklich dabei schaden, oder nicht helfen können?! Das frage ich mich aus Verzweiflung, aber wehre mich doch dagegen, wenn es angeboten oder angepriesen wird, denn ich will nichts aufgedrückt bekommen und habe ein mieses Gefühl dabei von Umgeformtwerden als sei ich schlecht und Aufdrücken der Leugnung, Aufruf zum Schweigen. In dem Gefühl nimmt man mich nicht ernst, wie gesagt, die Gesellschaft ist durchzogen von der Angst des Kindes, das nicht sehen darf, so kommt es mir vor.
k

AM: Sie schreiben: “Die Gesellschaft ist durchzogen von der Angst des Kindes, das nicht sehen darf” und ich stimme Ihnen vollkommen zu. Es ist auch schlimm, dass sich die meisten Menschen dieser Angst nicht bewusst sind und daher nicht daran arbeiten wollen oder – ohne Begleitung – nicht können und diese Begleitung selten finden, weil sich auch die Therapeuten ihrer Ängste nicht bewusst sind. Auf jeden Fall nicht der eigentlichen Ursachen ihrer Ängste. So finden die Menschen tausende Gründe für ihr verbogenes Denken, schließen sich Gruppen an mit destruktiven Ideologien und haben nicht die leiseste Ahnung davon, dass sie auf diese Weise “NUR” ihre frühkindliche Angst vor ihren Eltern oder Erziehern abwehren. Wenn Sie die Leserbriefe hier zu Gesicht bekommen, dann sehen Sie doch, wie sich wie ein roter Faden die feste Überzeugung durchzieht: “Ich wurde nicht misshandelt, nur manchmal bestraft, habe dies aber verdient”….und so weiter und so fort. So spricht das verängstigte Kind, WEIL es geschlagen wurde. Wenn es einmal als Erwachsener genau wissen darf, dass und wie es gequält wurde, dann fällt die Angst von ihm weg, und er hat den starken Wunsch, seine Wahrheit zu sehen, davon zu sprechen und von der gewonnenen Freiheit die Energie zu schöpfen, die er braucht, um sein eigenes Leben aufzubauen und aufzuhören, der Sklave seiner Eltern zu sein. Ich habe den Eindruck, dass Sie für diese Entwicklung eine Chance haben, weil Ihnen Ihre Angst BEWUSST ist, weil Sie sie bereits FÜHLEN können, statt sie zu ideologisieren. Doch was noch fehlt, vielleicht, ist, die wenigen Erinnerungen (die genügen vollauf) ernst zu nehmen, die Ihre Ängste voll rechtfertigen. Ich wünsche Ihnen den Mut dazu; Ihre Eltern können Ihnen HEUTE nichts mehr antun, wenn Sie es Ihnen nicht erlauben – aus Angst.
Um die Angst zu überwinden, gibt es viele Möglichkeiten, eine davon ist das Schreiben. Wenn Sie sich zB ein dickes Heft kaufen und darin Ihren Eltern (in der zweiten Person, wie in Briefen, die Sie nicht wegschicken sollten) schreiben, was sie Ihnen angetan haben, an was Sie sich erinnern können und welche Folgen das für ihr Leben hat, dann wächst in Ihnen das Kind, wird stärker durch die Worte, die Sie ihm geben, und die Angst wird schwächer. Das ehemalige Kind erwacht aus seiner Erstarrung. Wenn Sie dabei Ihre Wut fühlen können, umso besser. Vergessen Sie nicht, dass diese Wut und der Zorn seit Ihren ersten Monaten in Ihrem Körper eingesperrt sind und Worte finden müssen, damit Sie ihm endlich glauben können und sich endlich befreien können.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet