Das gerettete Leben

Das gerettete Leben
Monday 05 May 2008

Liebe Alice Miller,
am 3. Dezember 2006 schrieb ich Ihnen schon einmal und nun sind fast 1 1/2 Jahre vergangen…
Mir ist es gelungen mich aus dem Schuldgefängnis in das meine Eltern mich sperrten zu befreien. Diese Sklaverei hat endlich ein Ende gefunden, dank Ihrer Antworten die mich begleiten! Erst als Sie mir klar und deutlich meine Not als Folge von Verbrechen benannten, wurde es mir möglich mich von den irrsinnigen Schuldgefühlen zu befreien. Meine Suizidgedanken sind vollkommen verschwunden! Ich empfinde das als enorme Befreiung. Ich arbeite hart an mir, um mir eine eigene Realität und der Gegenwart meine Farben zu geben.
Zwar lebe ich noch nicht so wie ich es mir erhoffe und wünsche.
Aber erst jetzt ist ein Anfang möglich, der Beginn und Versuch auf eigenen Füßen zu stehen, mich selbst zu tragen. Ich fühle mich noch wie eine Gestrandete und versuche mit den Scherben der Gegenwart umzugehen.
Manchmal träume ich noch von meinem Stiefvater und bin erleichtert wenn ich erwache und mir sagen kann: er ist tot, er kann mir nichts mehr tun. Ich kann mich heute gegen seine Übergriffe wehren. Ich trete ihm entgegen, auch wenn mich oft noch Angst vor ihm überfällt, als ob ich sterben müsste, weil ich glaube ihn im Nacken spüren zu können…
Ich war ein mutiges kleines Mädchen, das ihm erbitterten Widerstand leistete, bis er mich mit Gegenständen totschlagen wollte, erst dann hat er mich brechen können. Der Diktator, der Auftragskiller meiner Mutter…
Noch fehlt mir Wärme für mich, Liebe. Ich kann die Angst noch nicht loslassen, die mich heute beherrscht, wenn ich in Kontakt mit anderen Menschen trete. Es ist ein Wechsel zwischen Apathie und angespannter Unruhe. Oft geht die Spannung von Kopf bis Fuß, bin sehr unsicher und ich leide körperlich schwer darunter. Ich bekomme riesiges Funkensehen auf den Augen, dass ich dann kaum noch etwas sehen kann, migräneartige Anfälle mit Kopfschmerzen, Schwindel und Herzschmerzen und das immer in längeren Gesprächen. (Ich bekomme sogar während ich jetzt schreibe Herzschmerzen?) Es gelingt mir nicht mich neben anderen Menschen zu fühlen oder wahrzunehmen, ich spüre mich dann einfach nicht mehr… Ich empfinde jedes Mal enormen Stress dabei…
Dies ist die größte Hürde die ich für mich überwinden muss, um lebendig zu leben… Zu oft habe ich mich selbst verraten, betrogen, mir was vorgemacht, mich täuschen lassen, ohne es merken zu können. Ich habe zu lange leblos gelebt…
In Ihrem neuem Buch DEIN GERETTETES LEBEN hat mich die Geschichte “Aus dem Tagebuch einer Mutter” sehr berührt und sie beschäftigt mich seither. Besonders die Frage der Mutter (S. 303): “Was suche ich also bei den anderen?”, habe ich für mich weiter ergänzt, “und was fürchte ich so in Kontakt und in der Nähe bei anderen”? Die Frage ist so elementar für mich, weil ich früher so in unbewusster emotionaler Abhängigkeit zu meiner Mutter lebte, dass eigene Beziehungsgestaltung gar nicht möglich war. Ihr liebenswürdiges Lächeln und ihren werbenden Blick “ich habe dich lieb und ich bin ganz lieb zu dir”, sehe ich heute als eine Quälerei und eine lebenslange Verwirrung, die meine Wahrnehmung vernebelte. Es ist als ob man einem Verhungernden das schönste Essen vor die Nase hält, er aber nicht essen darf, er darf nur schauen… Sie hat ihr Versprechen niemals eingelöst und mich neben ihr wie in einer Totenstarre gehalten, an sich gefesselt, in entsetzlich nahem Abstand und völlig beziehungslos. Sie redete nie wirklich mit mir, sondern diktierte mich ganz “liebevoll”, so wie sie es brauchte… Ich konnte nur als immer lächelnde Maske überleben…
In jeder Zelle von mir ist noch tiefe Lebensfurcht, Erschöpfung. Ich fürchte meine Kopfhaare ganz zu verlieren, immer wenn ich mich freue, dass wieder einige nachgewachsen sind, fallen sie wieder aus… Mein Körper kann sich einfach nicht erholen. Als ob jede einzelne Körperzelle aus Angst noch immer den Todeswünschen und der Zerstörungswut meiner Mutter gehorcht. Das ist so grausam… und macht mich verzweifelt…
Gefangen war ich auch in einer Vaterfigur, meinem leiblichen Vater, den es nie wirklich gab.

Vor einiger Zeit träumte ich, dass ich ein Kind bekam. Es machte mir angst. Ich dachte in dem Moment, ich werde das Kind nie wieder los, es wird immer da sein. Es wuchs heran und wurde erwachsen. Ich spüre diese enorme angst, dieses Kind niemals mehr loszuwerden.
Als ich aufwachte, war ich voll angst, schockiert und irritiert. Aber ich glaube dass es vielleicht die Angst und der Zorn meiner Mutter ist, als sie wusste dass ich geboren bin. Und es ist meine eigene Seele, die mir so gefährlich und stark ängstigend vor kommt?
Dann träumte ich, dass ich verheiratet bin und das mir mein Mann mein Kind wegnahm, er zog unser Kind auf. Ich wollte das es bei mir aufwächst. Aber ich gab nach. Mein Mann meinte unser Kind hätte es besser bei ihm und ich würde nicht für es sorgen können und sollte dies einsehen. Später als Erwachsener fragte es mich, warum ich es zu lies, dass es nicht bei mir aufwuchs. Und ich sagte, dass ich glaubte, es würde es bei seinem Vater besser haben als bei mir und das mir diese Entscheidung leid tut.
Beide Träume beschäftigen mich sehr. Ich hatte nach einiger Zeit beim 2. Traum plötzlich das Gefühl, das dieser Mann mein leiblicher Vater war und dieses Kind meine Seele, die er mir genommen hat, als er kalt, abweisend mich verstieß. Auch hier weiß ich nicht warum, aber ich spüre das es so ist. Es kann doch gut möglich sein, nicht wahr?
Weihnachten erhielt ich eine Karte von ihm in der er mich aufforderte zur Vernunft zu kommen und Kontakt mit ihm herzustellen, weil er ihn sich jetzt wünscht, den er mir selbst über Jahrzehnte verweigerte, sogar bei Begegnungen auf der Straße durfte ich ihn nicht grüßen, er schaute einfach weg, als würde er mich nicht kennen. Ich antwortete nicht auf sein Schreiben und als er anrief sagte ich ihm, dass ich keine weiteren Telefonate oder Begegnungen wünsche, ich möchte keine Zeit mit ihm verbringen, nur weil er sich heute einsam und verlassen fühlt und obendrein noch immer völlig gewissenlos ist. Ich will mich heute nicht für die emotionale Verdrängung eines mir fremden Vaters missbrauchen lassen.
Früher hätte ich mich wohl hoffnungsvoll auf ihn eingelassen, aber heute ist es mir zum Glück unmöglich. Seine Arroganz und Verachtung mir gegenüber ist unverändert und unerträglich für mich…
Manchmal wünsche ich mir einfach nur “Mensch” zum Anfassen, der mich stützt…
Es fällt mir so schwer die eigenen Schatten in der Gegenwart zu erkennen. Es ist so als ob man Buchstaben sieht und nicht weiß was sie bedeuten…
Das ist so hart. Aber ich gebe nicht auf. Die vielen Antworten hier auf die Leserbriefe geben mir immer wieder Hoffnung trotzdem auch allein weiterzukommen. Dank Ihrer unerschöpflichen Aufmerksamkeit, mit Ihrem Wissen und Erfahrungen beizustehen und die Leser zu begleiten.
Irgendwann möchte ich auch schreiben können, wie einige andere hier: Ich lebe jetzt mein Leben.
Viele Grüße, C.

AM: Ich kann mich sehr genau an Ihren Brief von 2006 und an meine Antwort erinnern. Ich war selbst erstaunt über mich, als ich Ihnen spontan schrieb, dass Sie stärker sind als Ihre „Liebe“ für den leiblichen Vater, der Sie gedemütigt und missachtet hat, und dass Sie diese zerstörerische giftige Bindung aufgeben können. Nun stellt es sich heraus, dass Sie sich tatsächlich davon befreien konnten (was eher selten gelingt) und ihm so klare Grenzen setzten, als er anrief. Ihre Reaktion auf seinen Anruf zeigt, dass es Ihnen doch schon möglich ist, das kleine Mädchen zu beschützen, das Sie waren. Ist dies nicht auch schon der Beginn Ihrer Liebe zu diesem Kind, von dem Sie zweimal träumen und das Sie nun auf keinen Fall Ihrem Vater ausliefern wollen, auch wenn die Versuchung in Ihrer Einsamkeit vielleicht groß war, der Illusion zu verfallen? Aber Sie ließen sich nicht täuschen, Sie haben seine Absichten durchschaut und wollten sich nicht einem Leiden aussetzen, das Sie aus der Kindheit bereits kennen und nicht bereit sind zu vergessen. Aus diesem Grund bin ich überzeugt, dass Sie es schaffen, sich auch von Ihren noch bestehenden Ängsten zu befreien. Sie sind ja schon dran, wenn Sie die Verlogenheit Ihrer Mutter schildern. Wir fürchten uns nur vor dem, was bereits passiert ist und was wir noch nicht in seiner Schrecklichkeit sehen wollen. Das Kind wächst in Ihnen, wie der Traum sagt, es wird Sie weiter leiten, und Sie werden froh sein darüber. Wenn Sie sich nicht länger verbieten zu sehen, wie Ihre Eltern waren und dass Ihr Leben HERZZERREISSEND war, werden auch die Schmerzen verschwinden. Die Augenmigränen zeigen, dass Sie sich noch zuweilen verbieten, vermutlich aus Angst vor der Strafe, Ihr GANZES damaliges Elend zu sehen, denn dafür brauchen Sie mehr Zeit als nur 1,5 Jahre. Sie haben aber bereits viel erreicht, Sie leben jetzt IHR Leben, mit Ihrer wahren Geschichte, fast frei von Illusionen. Das ist erstaunlich, und ich gratuliere Ihnen dazu.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet