Ohne Sie wäre ich vielleicht immer noch Niemand

Ohne Sie wäre ich vielleicht immer noch Niemand
Wednesday 02 August 2006

29 Jahre musste ich warten, bis ich heraus finden konnte wer ich bin. Als ich während einer Neunmonatigen stationären Behandlung meiner ewig wieder kehrenden Depressionen erkannte, dass ich Niemand bin, entschloss ich mich Jemand zu werden. Ein Lernprozess begann, der gut voran kam, immer noch währt und wohl nie enden wird. Aber ich habe nun, sieben Jahre nach der Psychiatrie, endlich eine Identität. Dank vielen Gesprächen mit meiner Frau konnte ich manches aus einer anderen Warte sehen. Ihr Standpunkt und ihre Meinung gleichen denen des Personals und meiner Mitpatienten in der Psychiatrie. Auch verdanke ich Alice Millers „Das Drama des begabten Kindes“ viele Erkenntnisse und Bestätigungen meines Seelenlebens. Unter anderem habe ich nun eine Vermutung, warum ich oft nicht bemerke, dass ich Hunger habe ;-). Dieses Buch bekam ich von einem Mitpatienten geschenkt, der eine identische Geschichte hinter sich hatte. Er war fast am Ende seiner Therapie, aber in den ca. 4 Wochen an denen ich mit R. P. Gruppentherapie, Streitereien und nette Geselligkeiten verbringen konnte, hatte er mich erkannt. Alles, was ich in der Gruppentherapie erzählte, schien er zu kennen und auch fast alle Antworten auf meine Fragen. Rainer versah Millers Buch mit einer kleinen Widmung: „Für einen Kämpfer, von einem…“
Manchmal bin ich versucht, wie früher üblich, den Psychoterror in Relation zu anderen Schicksalen zu verharmlosen. Aber auch wenn ich nicht missbraucht oder schwer körperlich misshandelt wurde, so haben mich zwei Menschen mit ihren Bedürfnissen terrorisiert. Haben mich mit Ignoranz verwundet und mir Orientierungslosigkeit mit auf den Weg gegeben. Mit Erpressung erzogen. Mich gedemütigt. Und noch mit Vorwürfen und Zynismus zermürbt. Und sie hatten mich, ohne es zu wollen, dazu gebracht, Angst vor Ihnen zu haben. Angst, dass sie mich töten würden, damals als kleiner Junge. Vorwürfe für meinen Selbstmordversuch mit Anfang 20. Aber R. P. hatte Recht.
Ich bin ein Kämpfer…
Und ich erkenne, dass ich niemals in dieser Familie respektiert wurde. Mein Vater war schon eifersüchtig auf mich als ich noch Kind war. Eifersüchtig auf meine frühen handwerklichen, sportlichen und intellektuellen Talente war, und bis heute noch ist. Ein Neider, der mich nie förderte, lobte, motivierte oder irgend welche Werte mit auf den Weg gab. Ich musste mein Licht unter den Scheffel stellen um seine Anerkennung zu finden. Gefühle verhöhnend und zynisch, engstirnig, rassistisch.
Meiner Mutter war ich lästig und sie fand einen Weg mich an- und aus zu knipsen. Sie manipulierte den Vater und mich, spielte uns gegeneinander aus und besetzte mich. Sie log und terrorisierte mich mit Vorwürfen und dem daraus resultierendem schlechten Gewissen. Keine Intimsphäre, kein Respekt, ich war Nichts.
Und das Schlimme daran: ich war 29 Jahre lang, genau so wie diese Zwei….mir wird übel bei dem Gedanken.
Ich suchte mir Freunde, die genau so neidisch auf mich waren wie mein Vater. Ich suchte bei Partnerinnen, was ich bei der Mutter nie fand.
Mein Blick klärt sich mit jeder Zeile, die ich schreibe, mehr und mehr. Ich brauchte keinen Analytiker, ich musste mich nur mir selbst und meiner ach so schönen Kindheit stellen und dass ging nur mit dem, was schon als Jugendlicher mein Seelenventil war: Schreiben! Auch wenn ich dadurch heute dieselben Ohrenschmerzen wie damals bekomme, wenn ich in Gedanken in dieser Zeit verweile. Und welchen anderen Titel wird mein Geschreibsel wohl verdienen können, außer „Das fünfte Gebot“ oder „Scheidung einmal anders“. Ich schreibe es außerdem um diese Geschichte einmal meinen Eltern “um die Ohren hauen” zu können, sollten sie es jemals verstehen, wenn sie sich wagen sollten hier auf zu tauchen.
Liebe Alice Miller,
Ihr „Drama des begabten Kindes“ ist der Kitt für das Mosaik meines Spiegels. Ich danke Ihnen.
Mit lieben Grüßen
A. M.

AM: Auch ohne mich wären Sie sicher niemals ein Niemand geworden, schon von Anfang an zeigten Sie doch sehr viel Vitalität und Wachsamkeit. Doch meine Bücher halfen Ihnen vielleicht, Ihre Wahrnehmungen ernst zu nehmen, und darüber freue ich mich natürlich sehr. Es kommt selten vor, dass man schon mit 29 die Klarheit über die eigenen Eltern gewinnt, wie Sie sie zeigen. Das Schreiben wird Sie immer wieder vor Illusionen beschützen, Ihnen helfen, an Ihre Emotionen heranzukommen und so sich selbst treu zu bleiben. Ich wünsche Ihnen gute Begegnungen auf diesem Wege.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet