Die Augen öffnen

Die Augen öffnen
Monday 10 July 2006

Liebe Frau Miller,

ich bin jetzt 48 Jahre alt und wurde von meinem 8. bis 14. Lebensjahr von meinem Stiefopa sexuell missbraucht. Zu dem Missbrauch kam es nur deshalb, weil meine Eltern beide noch halbe Kinder, meine Mutter narzißtisch besetzt ( das habe ich aus Ihren wertvollen Büchern gelernt) mir nicht das geben konnten was ein Kind eben braucht. Deshalb habe ich mir meine emotionale Nahrung von aussen geholt. D.H. von Oma und Opa. Meine Oma konnte mir sehr viel Liebe geben, während mein Opa, mein Bedürfnis nach Zuwendung ausgenutzt und mich sexuell missbrauchte. Mit 8 j. erzählte ich es meiner Mutter, mit 11 J. meiner Oma, aber nichts passierte. Als ich 14 J. alt war überraschte sie ihn. Sie sagt heute noch, sie hat uns erwischt.
Ich bin seit über 20 J. dabei, meine Kindheit zu verarbeiten. Ich habe eine Selbsthilfe Gruppe besucht , 2 Psychotherapien, 4 Familienaufstellungen gemacht und war 2005 5 Wochen in der Brukerklinik in Lahnstein. Den Missbrauch habe ich eigentlich schon lange verarbeitet, aber, dass meine Eltern nicht mit mir gesprochen haben nicht: mein Vater nannte mich nur eine Hure, und meine Mutter sagte, dass ich es nicht der Oma erzählen darf, die sei herzkrank und die würde dann sterben. Das war alles. An dem Tag
haben wir glaube ich ein Picknick gemacht, und ich habe die ganze Zeit überlegt wie ich mich am Besten umbringe.
Das Totschweigen und das mir die Schuld geben, ist für mich das eigentliche Trauma. Auch die immer wiederkehrenden Bemerkungen über meine Figur und meinen Busen haben mir meinen Körper so vermiest, dass ich 1999 meinen Busen verkleinern lies. Ich habe mich bis vor kurzer Zeit noch so sehr geschämt, dass mir heute schleierhaft ist, wie ich ein nach aussenhin normales Leben
aufrechterhalten konnte. Ich habe immer wieder versucht mit meiner Mutter in einen Dialog zu kommen und die wahre Geschichte zu benennen. Wenn sie wirklich und wahrhaftig eingesehen hätte, was sie mir antat, dann hätte ich ihr verziehen. Mit antat meine ich, einfach so tun, als sei nichts passiert.
Meinen Vater kann man vergessen, der war immer schon Alkoholiker. Ich war mehrmals bereit meiner Mutter zu verzeihen und ihr im Alter beizustehen, wenn sie nur nicht immer sagen würde, sie habe nichts gewusst. Sie hat es gewusst, weil sie mal in einer schwachen Stunde zugegeben hat, dass er auch an sie ging, als sie 11 j. alt war.
Letztes Jahr im September habe ich ihr Buch gelesen: die Revolte des Körpers. Das hat mir die Augen geöffnet. Ich habe jetzt zu meinem wahren Selbst gefunden und weiss nun auch, was sie damit meinen. Mit meinen Eltern bin ich fertig, ich habe mich losgesagt.
Ich danke Ihnen sehr, Sie leisten einen sehr wertvollen Beitrag für die
Gesellschaft.
Viele Grüße aus Deutschland, D. K.

AM: Ich danke Ihnen für Ihren Brief. Bin so froh, dass mein Buch “Die Revolte” Ihnen geholfen hat, aus dem Kreis der Vergebung, des Wartens auf Verständnis, der Selbstbeschuldigung herauszutreten. Für solche Fälle, deren es sicher Millionen gibt, wurde das Buch geschrieben. Vielen bedeutete dessen Lektüre eine Erleichterung, aber nur wenige haben den Mut, die Augen zu öffnen und ihre Wahrheit wirklich zu fühlen, weil es so schmerzhaft ist, zu sehen, wie man von den Eltern betrogen, verraten und obendrauf noch beschuldigt wurde. Die meisten fahren fort, sich selbst für den erfahrenen Betrug zu beschuldigen, bezahlen das mit Verwirrung und Depressionen, lassen sich diese mit Medikamenten “wegmachen”, und all dies, um das intakte Bild ihrer Eltern zu erhalten. Sie haben den Mut gehabt, sich vom Selbstbetrug zu befreien, und Ihr Körper wird Ihnen zweifellos mit einem besseren Befinden danken. Sollten Sie erneut Zweifel bekommen, lesen Sie meinen letzten Artikel auf dieser Webseite.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet