Die hilfreiche Erinnerung
Thursday 25 June 2009
Liebe Frau Miller,
ich bin auf dem Wege, mein Schicksal zu begreifen, klar zu sehen.
Sie haben im Januar meinen „Brief an meine Mutter“ veröffentlicht. Alles darin war und ist wahr, aber es gibt neues Licht. Wie im Rausch habe ich diesen Brief an meine Frau geschrieben, wage nicht die Frage, ob sie ihn lesen sollte, er ist wohl nur für mich – aber es könnte so überaus befreiend sein. Ein Stück dieser Freiheit durfte ich mit dem Brief an meine Mutter kosten…
Licht fällt endlich auf den begründeten Haß auf meine Mutter, die Ereignisse, die dazu führen konnten und mußten.
Mein Vater war nicht der liebe saufende Bruder. Jetzt darf ich wissen. Der schon damals geschilderte Mißbrauch wird faßbar. Wenn es nicht um mich ginge, hätte ich schon eher darauf kommen können… Nun, ich hatte mir damals vorgenommen, falls ich einmals groß und stark wäre, würde ich ihn umbringen. Nach seinem natürlichen Tod, konnte ich das ganz in Gedanken auch tun. Und nun kam die Geschichte richtig ins Rollen.
Hier ist mein Brief:
Laßt mich ein wenig von mir erzählen. Es soll keine Entschuldigung sein, laßt mich einfach erzählen. Es könnte mein Verhalten erklären. Ich will niemandem Schuldgefühle einreden – ich weiß viel zu gut, wie man mit Schuldgefühlen lebt. Ich durfte nicht lernen, wie es ist, zu erzählen und gehört zu werden.
Du bist die beste, die mir begegnen konnte. Dieses Gefühl wurde immer stärker mit der Geburt unserer Kinder. Wie hast du es mit mir aushalten können. Es ist soviel an einfacher, natürlicher Milde und Güte in Dir; es ist einfach unglaublich. Du mußtest mit meinem Schweigen leben, ich mußte das auch.
H., bitte sorge dafür, daß ich niemals in der Nähe meiner Eltern begraben werde. Das ist sehr wichtig, sonst finde ich nicht einmal im Tod Ruhe.
Kannst Du unseren Kindern von mir erzählen, weißt Du überhaupt etwas von mir? Es tut mir so leid… dabei bin ich das Opfer… und er, schon längst tot…
Stell Dir vor, ein fünfjähriger Junge, der in der Badewanne gequält wird, so lange, bis ihm die Hoden schmerzen, bis Blut aus dem Hintern läuft, ich sehe das rötliche Wasser, es ist unglaublich angsteinflößend. Ich sehe diesen Jungen, der einmal ich sein soll, wie er Trost sucht bei einer Mutter, die an seinem Schmerz nicht interessiert ist, die für mich niemals Trost hatte. Warum wollte ich immer eine andere Mutter, egal welche. Woher habe ich wohl meine Dauerverletzung am Hintern, täglich Blut in der Toilette, die Würmer bis zum 12. Lebensjahr, die Verletzung, die erst mit 31 Jahren operiert wurde. Die Seele hat auch geblutet, Operation unmöglich. Ich, der als Schlüpferheini verspottet werden durfte, von einer Mutter, die nur ihre eigenen Bedürfnisse kannte, die mich dressierte, bis ich pflegeleicht war, bis ich nicht mehr störte, ohne Wahrnehmung von Schmerz, Liebe, ohne Bedürfnis auf ihre Nähe. Ich mußte so absolut unabhängig werden, wie ich es wurde: niemand kann mir helfen, niemand muß mir helfen, ich brauche niemanden, nichts kann mir wehtun, niemand weiß, was ich fühle. Ich wurde zu mir, wie meine Mutter zu mir war… unlebendig, tot.
Es ist so unglaublich… welcher Vater macht sowas, welche Mutter macht sowas… kann mir überhaupt jemand glauben… ist es nicht absolut unglaublich? Ich sehe ihn vor mir, sehe sein riesiges Glied – für einen kleinen Jungen ziemlich riesig, höre sein Stöhnen – was bedeutet das alles, fragt sich der kleine Junge, woher soll ein kleiner Junge das wissen, höre seine Haare auf den Beinen rascheln – kann meine eigenen Beine in kurzen Hosen kaum ertragen… Angst, Todesangst. Erlebe seine Kraft, mein Vater ist der stärkste, Widerstand zwecklos, dir glaubt doch sowieso keiner… hahaha Warum weint mein Vater, als im letzten Telefonat vor seinem Tod sagte, daß ich mich für ihn interessierte; wir hatten so gut wie keine Gespräche miteinander. Welches Gefühl, welche Erinnerung mußte er wegsaufen, warum half kein Entzug, warum sagte er auf den Grund für den Alkoholismus befragt in seltener Schroffheit: Das geht niemanden was an! Aber ich habe überlebt, mich geht es an. Jetzt darf ich mir von meiner Schwester anhören, daß der Vater immer die Familie zusammengehalten hätte – das war die Reaktion auf meine Trennung von der Mutter – eine Farce! Dreckschweine, ich habe niemandem etwas angetan… (Übrigens H., da kannst Du Dir sicher sein.)
…
Liebe Frau Miller, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, für Ihre unermüdliche Begleitung.
Mit den besten Grüßen, HQ
AM: Ihr Brief ist erschütternd, wie auch der Brief an Ihre Mutter, den wir am 11. Januar dieses Jahres veröffentlichen durften und den ich heute mit den gleichen Gefühlen der Empörung und Erschütterung wieder gelesen habe. Doch nun kam noch die schreckliche Erinnerung dazu. Wie war es Ihnen möglich, diese auszugraben? Wohl kaum in Ihrer Analyse? Auch wenn diese Erinnerung schrecklich ist, wird sie Ihnen noch weiter helfen, Ihre Gefühle zu verstehen und zu berechtigen. Sie mussten erkennen, dass Ihr Vater nicht der “liebe saufende Bruder” für Sie war, sondern jemand, der ein schweres Verbrechen an Ihnen begangen hat. Sie haben Jahrzehnte an den Folgen gelitten, mussten sich noch schämen und schuldig fühlen. Wie war es möglich, dass die Ärzte so lange die Verletzung nicht festgestellt haben? Haben Sie die Ärzte gar nicht aufgesucht, wie Ihre Eltern es Ihnen beigebracht haben? Es ist ein Skandal, dass so viele Eltern sich nach aussen als so harmlos geben können und zu Hause den Kindern straflos eine Hölle bereiten dürfen, weil die Verdrängung der Kinder ihr Geheimnis schützt. Und die ganze Gesellschaft, die Medien, die Hochschullehrer, die Juristen, leider auch viele Therapeuten, weichen der Wahrheit über diese Dynamik aus. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie mir erlauben, Ihre klaren und mutigen Texte zu veröffentlichen, das wird sicher anderen Opfern helfen, über das Erlittene zu sprechen. Zweifellos haben Sie Ihrem Mut, die Wahrheit unbeschönigt zu sehen, zu verdanken, dass Sie Ihre Kinder lieben und beschützen können.