Jahrelange Qualen
Tuesday 21 July 2009
Sehr geehrte Frau Dr. Miller,
Es mag eigenartig klingen, aber erst durch den Tod von Michael Jackson vor drei Wochen, kaufte ich sofort zwei Ihrer Bücher: „Das Drama des begabten Kindes“ und „Die Revolte des Körpers“.
Ihr Name und auch die Bücher, die Sie verfaßten, waren mir aber schon in den 80-er Jahren bekannt, als nämlich meine ältere Schwester eine Psychotherapie in Halle bei Professor Maats machte, nachdem sie Ihre Bücher gelesen hatte.
Unsere Mutter hat damals mit Empörung darauf reagiert und uns anderen Geschwistern Ihre Bücher als „Teufelswerk“ dargestellt, sodaß wir Angst hatten, auch nur einen Blick hinein zu werfen.
Heute, nachdem ich angefangen habe, Ihre Bücher zu lesen (und ich werde sie alle lesen), habe ich festgestellt, daß Sie genau das formulieren, was ich jahrelang bereits gefühlt habe, nämlich die Abhängigkeit von meiner Mutter, ihre Macht und letztendlich ihre Verachtung. Jahrelang stellte ich mir die Frage „WARUM?“. Warum hat sie uns so gequält, warum konnte sie nicht damit aufhören auch wenn man schon tief verletzt war? Warum erwartet sie jetzt, da sie alt ist, Liebe? Ich kann keine Liebe empfinden.
In Ihren Büchern finde ich die Erklärung dazu. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Meine Mutter erfüllt alle Kriterien einer narzißtisch gestörten Persönlichkeit. Diese Verhaltensmechanismen zu durchschauen, erscheint mir für einen Laien, der man ja als Kind, Jugendlicher und Erwachsener ist, geradezu unmöglich, ohne die Niederschrift Ihrer Bücher gelesen zu haben. Man empfindet nur, daß etwas nicht stimmt.
Unsere Mutter, bei Pflegeeltern aufgewachsen, später vom leiblichen Vater sexuell mißbraucht, wenn sie ihren Unterhalt abholen mußte, verleugnet und irgendwie allein, verliebte sich als junge Frau in einen katholischen Priester. Das erste Kind, meine ältere Schwester kam zur Welt. Die katholische Kirche hatte für solche „Versehen“ eine Lösung. Das Kind sollte in einem Cisterzienser Kloster untergebracht werden und dort aufwachsen, um den Priester als Priester zu schützen.
Meine Mutter aber behielt das Kind und zwei Jahre später kam mein Bruder zur Welt. Als sie die erneute Schwangerschaft mitteilte, bot unser Vater (zu dem Zeitpunkt noch Priester) an, das Kind abtreiben zu lassen. Das Geld dafür hatte er bereits beisammen. Er wollte sein Priesteramt nicht verlieren.
Doch auch diesmal entschied sich unsere Mutter für das Kind. Fortan wird sie unseren Vater bei jeder Situation des Aufbegehrens daran erinnern, daß es nur ihr Kind ist, da er es ja nicht wollte.
Die Zeiten waren schlecht und unsere Mutter kämpfte ums Überleben. Zwei uneheliche Kinder in der damaligen Zeit waren ein Makel. Sie zwingt unseren Vater, sein Priesteramt niederzulegen, damit er für die Familie sorgen kann.
Ein schwerer Gang zur Institution Kirche begann für ihn.
Doch unter der Soutane und den kirchlichen Wurzeln entrissen, entpuppte sich ein ganz anderer Mann. Weg waren die schillernden Farben, die Andächtigkeit in heiliger Atmosphäre, weg die schönen Gesänge. Was blieb war ein Mann mit Schwächen, überfordert mit Familie und einer Arbeit, die seinen Idealen nicht entsprach. Täglich frühes Aufstehen, Kindergeschrei, kaum Zeit für die alten Sprachen, die er so liebte…
In seiner, ihm zugedachten, Rolle als Familienvater fühlte er sich nicht wohl. Haßgefühle gegen die Kinder schäumten immer öfter auf. Er drohte, schlug. Die Kinder entwickelten solche Angst, daß sie schon bei einem strengen Blick des Vaters in die Hosen machten (Mein Bruder blieb bis zu seinem 16. Lebensjahr Bettnässer). Neurosen wie „Lecken“ stellten sich ein. Beide leckten sich bis in die Nasenlöcher hinein so wund, daß keine Creme es heilen konnte.
Schon in den ersten Jahren der Ehe wurde unser Vater zum Kontrollverlusttrinker. Nicht selten erlebten meine größeren Geschwister unseren Vater bewußtlos liegend. Böse Worte und Streit zwischen Vater und Mutter gehörten zur täglichen Disharmonie.
Nach einer Fehlgeburt wurde ich dann geboren und es kam nach mir noch meine kleine Schwester zur Welt.
Auch ich hatte viel Angst. Unsere Mutter war kalt und zurückweisend (…was flennst du denn…?) Unser Vater, durch seine frühere Priesterschaft noch immer glaubend, erzählte uns von der Hölle und dem Fegefeuer und dem ‚Gottes Aug‘ ist das was alles sieht‘. Überall fühlte ich mich beobachtet, sogar auf der Toilette.
Ich erinnere mich kaum an meine Kindheit. Ein Erlebnis aber war für mich traumatisch und zieht sich durch mein Leben, wann immer ich einen Verlust zu verkraften habe.
„Ich spielte in dem großen Kinderzimmer, alleine mit meinem alten Teddy. Die Tür geht auf und meine Mutter ruft mich mit eigenartiger Freundlichkeit hinaus auf den Flur ‚bring deinen Mungo mit‘. Ich spürte Angst, witterte Gefahr. Als ich im Flur stand machte sie die Klappe des Kachelofens auf, riß mir meinen Teddy aus der Hand und warf ihn in die lodernden Flammen. Entsetzen, Atemlosigkeit… ‚Geh zurück in dein Zimmer. Zu Weihnachten bekommst du einen neuen Teddy‘.
Die Tage schienen nicht zu vergehen. Dann war es so weit. Es wurde Weihnachten. Da saß auf meinem Gabentisch ein Teddy. Dunkelbraun, ganz fremd. Es war nicht mein Mungo. ‚Na, freust du dich?‘. ‚Ja‘.“
Lange Zeit dachte ich nicht mehr an dieses Vorkommnis. Aber irgendwann später fragte ich mich, warum hat meine Mutter nicht einfach das Auge des Teddys angenäht. Es hing lang an einem Strick aus seinem Kopf.
Was war der Grund dafür, daß sie ihn so brutal verbrannte und warum mußte ich dabei zusehen?
Eine andere Hölle kam, nachdem sich unsere Eltern nach 18- jähriger Ehe trennten.
Ich war damals elf Jahre alt und nun ging ein hemmungsloser Psychoterror meiner Mutter los. Wir waren ihr einfach ausgeliefert. Sie – selber keine Schönheit – verspottete uns wegen Äußerlichkeiten, für die wir ja gar nichts konnten. Mein Bruder wurde wegen seiner gekrümmten Beine gehänselt. Meine große Schwester hatte zu kurze Beine und einen Mond- Hintern, sie schluckte zu laut (alle mußten am Tisch Stillschweigen, damit wir das laute Schlucken meiner Schwester hörten über das sie dann abfällige Bemerkungen machte. Noch heute kann sie in Gesellschaft kaum essen, es wird ihr mehr und mehr im Mund und sie kann Speisen kaum herunterschlucken). Ich wurde mit Hühnergackern am Tisch empfangen, weil ich angeblich eine Hakennase habe und aussehe wie ein Huhn. Wenn ich tief verletzt war und das Zimmer, den Tisch verließ, wurde die Tür hinter mir aufgerissen um mir ein lautes ha-ha- ha hinterherzuschreien.
Wir durften uns im Bad, das eigentlich ein Zufluchtsort ist, wo man ganz für sich alleine sein möchte, nicht einschließen, ja es gab keinen Schlüssel für diese Tür. Jedesmal, wenn ich in der Wanne saß, ging die Türe auf und meine Mutter brauchte ein Paar Schuhe aus dem Regal. Ich schrie jedesmal wie am Spieß und legte mir alle verfügbaren Lappen vor den Leib. Wenn ich ihre Schritte rechtzeitig über den Flur kommen hörte, legte ich mich schnell auf den Bauch. Einmal riß sie mich aus dem Badewasser in die Höhe und betrachtete mich von oben bis unten. Da brach ich weinend in mich zusammen. Überhaupt konnte uns unsere Mutter nicht einfach nur ansehen. Sie „betrachtete“ uns und in ihrem Blick stand immer Verächtlichkeit. Wir entsprachen nicht ihrem Schönheitsideal. Ich fragte mich oft, ob es überhaupt möglich sein kann, daß ein heranwachsendes Mädchen so häßlich sein kann, daß man sich darüber so amüsiert, daß man so den Mund verziehen muß.
Der Blick in den Spiegel war verboten. Nur heimlich schaute ich mich im Spiegel an. Wenn der Verdacht bestand, daß sie mich erwischen könnte, senkte ich den Blick.
Trotzdem dienten wir Kinder ihr, so wie Sie es in Ihren Büchern beschreiben. Sie sah es nicht, es gab keine Anerkennung. Je mehr sie klagte umso mehr machten wir für sie. Irgendwann stellte ich fest, daß man ihr nichts recht machen kann, daß es nie genug ist, was man auch tut.
Den Mut zur Therapie hatte leider nur meine ältere Schwester.
Mein Bruder hat vor vielen Jahren versucht, die Verbindung zu unserer Mutter abzubrechen. Auch er hat Ihre Bücher gelesen und zwar in der Zeit, als er sein erstes Kind erwartete.
Ich selbst habe schon als junge Frau unter Depressionen gelitten und konnte mich selbst nie verstehen. Meine Gefühlswelt bestand aus schlechtem Gewissen, Schuldgefühlen und Selbsthass. Meine Sensibilität gegenüber anderen Menschen empfinde ich nicht als Segen. Ich habe irgendwann meine Schwermut und meine Traurigkeit als mein Skript akzeptiert.
Aber ich empfinde wirkliche Liebe zu Tieren.
Eine Frage habe ich an Sie:
Wir waren vier Kinder und wir ersten drei haben die Quälereien unserer Mutter aushalten müssen, um- wie Sie in Ihren Büchern schreiben- ihre eigene Vergangenheit aufzuarbeiten. Wir haben genau wie Sie beschreiben, die Rolle der Kinder ohne Selbst, ohne eigenen Spiegel übernommen, um der Mutter zu dienen und sie ungehindert Rache an der eigenen verletzten Kindheit nehmen lassen zu können.
Unserer jüngeren Schwester aber hatte sie anscheinend eine andere Rolle zugesprochen. Sie wurde mehr und mehr zu ihrer „Komplizin“. Häme und Spott kamen dann von unserer Mutter und unserer kleinen Schwester. Liegt es daran, daß die Jüngste einfach frecher war als wir anderen? Hatte sie nicht die Feinfühligkeit wie wir? Sie schreiben, daß sich die betroffenen Personen besonders die sensiblen Kinder zu Nutze machen.
Hatte unsere Mutter vor unserer kleinen Schwester mehr Achtung als vor uns? Hat sie mehr dem Ideal entsprochen?
Unsere kleine Schwester hat vor circa 3 Jahren mit der Aufarbeitung der (ihrer) Vergangenheit begonnen. Sie wurde magersüchtig (mit 45) und ist heute in einem Zustand schwerer Alkoholabhängigkeit.
P.S.:
Ich schreibe kleine Geschichten über Tiere. Dabei lasse ich die Tiere selbst erzählen. Sie sind in der Ich- Form geschrieben. Eine dieser Kurzgeschichten hänge ich an. Sie wird von unserem Kater Max erzählt, der für mich als Kind sehr wichtig war.
(See attached file: Geschichte von Max.doc)
Ich bin überzeugt davon, daß Sie täglich unzählige E- Mails bekommen. Es hat mir gut getan, Ihnen zu schreiben.
Sobald ich früher nämlich anfing über das Geschehene mit einem anderen Menschen zu reden, sagte eine innere Stimme „Ach, das interessiert doch niemanden“. Schon bei ersten Ansätzen kamen Reaktionen „Das glaube ich nicht“. Auch Selbstzweifel stellten sich ein. Die Kindheitsthemen zwischen uns Geschwistern waren jahrelang tabu. Nur ganz vorsichtig wagten wir uns vor, denn Verrat lauerte immer.
Auch dazu hat unsere Mutter uns in ihrer Machtstellung benutzt. Jeder hat Jeden verraten. Und Jeder war furchtbar allein.
Jetzt, da ich Ihre Bücher endlich lesen kann, habe ich meine große Schwester als Gesprächspartner, die mich vor allem ernst nimmt und nichts ins Lächerliche zieht.
Danke, daß Sie sich die Zeit zum Lesen meines Briefes genommen haben. Schon in diesem Moment überkommen mich Selbstzweifel und der Wunsch diesen Brief zu löschen und nicht abzuschicken. Aber ich drücke jetzt auf Senden, ich habe niemanden verraten!
Danke für die Kraft, die Sie mir durch Ihre Bücher geben.
Mit freundlichen Grüßen, CK
AM: Ihr Brief ist so erschütternd, so klar und so informativ. Ihre Angst vor dieser Mutter ist so begreiflich, wie konnten Sie das bloß so lange aushalten? Haben Sie die Katze schließlich laufen lassen oder sie doch dem Tod ausgeliefert? Auch wenn Ihnen keine Strafe für das Laufenlassen gedroht hätte, denn Ihre Mutter hätte es nicht erfahren. Die panische Angst saß in Ihnen so viele Jahre, und sie fügten sich allen Absurditäten. Das tun sehr viele Menschen, sie GLAUBEN, dass die Strafe sie einholt, auch wenn sie bereits erwachsen und außer Gefahr sind. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Befreiung.