Die Nachbarn fragen?

Die Nachbarn fragen?
Sunday 01 October 2006

Liebe Alice Miller,

ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir zu folgendem Problem etwas antworten könnten:

Ich habe eine vage Erinnerung an ein traumatisches Erlebnis, das ich im Alter von 3-4 Jahren gehabt haben muss. Ich kann mich nur noch an die Raumsituation und den mit diesem Erlebnis verbundenen „Filmriss“ erinnern. Meine Mutter erzählt mir dazu, dass sie abends wegging, um zu telefonieren, und ich in ihrer Abwesenheit so geschrien hätte, dass die Feuerwehr anrücken musste. Während die Feuerwehr schon die Leiter am Fenster angelegt hätte, wäre meine Mutter zurückgekommen. Ich habe ihre Schwester dazu gefragt, sie war sehr verwundert, dass sie von diesem Ereignis nichts wusste, obwohl sie zu der Zeit mit meiner Mutter im Kontakt war. Aufgrund von Träumen und Gefühlen vermute ich, dass mit dieser Sache ein Selbstmordversuch meiner Mutter verbunden war, oder sogar, dass sie mich töten wollte. Da ich mit meiner Mutter keinen Kontakt mehr habe, und vor allem auch, weil ich sicher bin, dass sie mir nicht de Wahrheit sagen würde, fällt diese Möglichkeit der Aufklärung aus.

Die einzigen, die mir dazu etwas sagen könnten, wären die damaligen Nachbarn. Ich habe in den letzten Tagen überlegt, sie zu kontaktieren und danach zu fragen, was sie zu dieser Sache wissen. (Das wäre auch nur telefonisch möglich, weil die Entfernung zu gross ist.) Ich wollte gern im Nachhinein Zeugen finden. Ich habe mich dann aber nach stundenlangem Überlegen doch nicht getraut. Schliesslich habe ich seit dreissig Jahren keinen Kontakt zu diesen Leuten gehabt. Ich habe sie zwar in guter Erinnerung, und sie haben, soviel ich weiss, keinen Kontakt zu meiner Mutter mehr, aber was sollte ich tun, wenn ich eine ablehnende Antwort bekommen würde? Das alles schien mir dann doch zu gewagt.

Ich möchte sehr gern wissen, was Sie darüber denken.

Viele Grüsse, S.P

AM: Ich sehe nicht, was Sie dabei riskieren, zumal Sie eine gute Erinnerung von diesen Nachbarn haben. Wenn Sie das Bedürfnis haben, dort anzurufen, warum sollten Sie es nicht tun? Der Versuch lohnt sich doch. Höchstens begegnen Sie dort einer Gleichgültigkeit; das kann unangenehm sein, aber wird Sie nicht umbringen. Doch das Kind hätte die Gleichgültigkeit der Nachbarn umgebracht, wenn die Feuerwehr nicht gekommen wäre, die die Mutter vielleicht alarmierte. Der Schrei des panisch verängstigten Kindes hat ja niemanden alarmieren können, leider. Es mag sein, dass es die Selbstmord- oder Mordabsichten der Mutter gespürt hat, das erzählen Ihnen jetzt Ihre Gefühle, Träume und Vermutungen. Verlassen Sie sich darauf, dass Sie Ihnen die Wahrheit erzählen; mit der Zeit werden Sie diese herausfinden. Vorausgesetzt, dass Sie Ihre Gefühle ernst nehmen und ihnen glauben. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg. Berichten Sie uns, wenn Sie mögen, was Ihnen die Nachbarn sagten und wie Sie sich dabei fühlten.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet