das gerettete Leben

das gerettete Leben
Friday 01 February 2008

Liebe Frau Miller, liebes Team

Vor ein paar Tagen hatte ich beim Lesen eines Briefes auf Ihrer Homepage ein richtiges Aha-Erlebnis. Das hat mich so glücklich gemacht, dass ich Ihnen unbedingt schreiben muss.

Ich muss ein bisschen ausholen, um meine Situation zu beschreiben. Ihre Bücher kenne ich seit den frühen achtziger Jahren, Sie selbst habe ich auch einmal an einer Veranstaltung in Z. erlebt, zu der wir Sie damals eingeladen hatten.

So wusste ich schon lange, dass ich ein unglückliches Kind und ein ebenso unglücklicher Erwachsener war. Auch habe ich mich immer wieder „empört“ über die Behandlung in meiner Kindheit, und doch konnte ich die Schuldgefühle und das ganze damit verbundene Elend nicht hinter mir lassen.

Es ging so weit, dass ich seit den 90er Jahren chronisch erschöpft und ewig krank war/bin, obwohl kein Arzt etwas finden konnte, und in meiner Lebensführung und Berufsausübung dadurch sehr eingeschränkt.

Es wurde mir also plötzlich beim Lesen klar, dass ich *wirklich* ein misshandeltes Kind war und dass meine Mutter mit Vorsatz all ihre kleinen und grossen Grausamkeiten herausgelassen hat.

Das klingt so simpel, hat aber einen grossen Unterschied ausgemacht – den Unterschied zwischen dem Gefühl/Wissen, „eine unschöne Kindheit gehabt zu haben“ (ich selbst wurde nicht geschlagen, mein Bruder aber umso mehr), und der Gewissheit, dass es für mich die Hölle war, dass ich als kleines, sensibles Kind seelisch und körperlich grausam behandelt worden bin.

Die Empörung darüber, dass so ein Verhalten einem lieben kleinen Kind gegenüber absolut gemein und unangebracht war/ist, das hat mich sofort aus meiner Depression herausgerissen.

Was mir noch geholfen hat bei meiner Empörung, war die Erinnerung, dass ich als halbjähriger Säugling fast erfroren wäre, weil mich meine Eltern in unserem alten, fast ungeheizten Haus allein in einem Zimmer schliefen liessen, mit Eisblumen an den Fenstern, und meine kleinen Hände von der Kälte ganz geschwollen waren und die Haut aufplatzte. Statt mich in ihr Bett zu holen, hat mich meine Mutter wie eine Mumie eingeschnürt, sodass meine Hände unter der Bettdecke blieben. Heute noch hasse ich kalte Schlafzimmer.

Als ich meine Eltern gefragt habe, warum sie mich nicht in ihr Bett geholt hatten, sagten sie, das sei damals nicht üblich gewesen. Zwar fanden sie das heute nicht mehr richtig, aber Mitgefühl konnten sie nicht empfinden … woher auch.

An einem psychologischen Vortrag vor längeren Jahren ist mir plötzlich die Gewissheit ins Bewusstsein geschossen, dass meine Mutter mich hat umbringen wollen. Ich konnte mir das nie erklären, glaube aber heute, dass dieses Kälteerlebnis allein schon ausreichen kann.

Im Moment fühle ich mich glücklich und ganz leicht (entlastet), und ich spreche viel mit meinem inneren Kind. Ich frage es bei allem, was ich mache, ob es damit einverstanden ist. Auch habe ich ihm ein ganz weiches, warmes Schafwollbett gekauft, in das es sich einkuscheln kann.

Ich rechne damit, dass es ein lebenslanger Prozess sein wird, zu lernen, mich wirklich gut zu behandeln, so ertappe ich mich ab und zu noch bei unschönen inneren Dialogen, spöttischem Reden wie „Na, das haben wir ja wieder mal gut gemacht!“

Aber ich bin ganz zuversichtlich, dass ich es schaffe, wenn ich jeden Tag alles aufschreibe, was mich beschäftigt, und mich jeden Tag um das kleine Kind bemühe.

Auch muss ich alles umlernen und „umdeuten“, was in der Gesellschaft vor sich geht, was ich lese, höre und erlebe. Davor habe ich aber keine Angst, ich will nur noch für mich selbst *echt* sein.

Ohne Ihre Arbeit, liebe Frau Miller, hätte ich das nicht geschafft, ich verdanke Ihnen buchstäblich mein Leben und bin Ihnen so dankbar dafür. Und es tut mir um all die vielen leid, die diese Möglichkeit nicht haben.

Herzliche Grüsse, M. S.

AM: Sie schreiben am Ende Ihres Briefes, dass Sie mir das Leben verdanken, aber natürlich meinen Sie meine Bücher. Und vor allem verdanken Sie den Erfolg Ihrer Arbeit. Das erinnert mich an den Kampf mit meinen ausländischen Verlegern, die um keinen Preis diesen Titel meines Buches übernehmen wollten, weil sie behaupteten, dass dieser gar keinen Sinn hätte. “Weshalb soll ich gerettet werden? Wovor?” fragte mich eine Verlegerin. Sehen Sie, wie schwer es einem fallen kann, dies zu verstehen, wenn man von der Arbeit, die Sie so erfolgreich durchgeführt haben, gar keine Ahnung hat? Weil man nicht wissen will, dass man einst selbst ein Opfer von Misshandlungen war.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet