Tabuthema Kindheit

Tabuthema Kindheit
Friday 07 April 2006

Sehr geehrte Frau Miller,
ich bin Mitte vierzig, arbeite in der Erwachsenenbildung (Sprachenunterricht) und würde Ihnen gerne eine IDEE FÜR EIN PROJEKT unterbreiten, die ich schon lange Zeit in mir trage. Ich beziehe mich dabei auf eine Äußerung in Ihrer Replik auf einen Leserbrief (22 Oct. 05, S.K., subject: Gewalt gegen Säuglinge): „…eine weit angelegte Aktion… Aufklärung der Bevölkerung wäre dringend notwendig. Vielleicht haben Sie eine Idee… dies bewerkstelligen kann.“

Zuvor noch ein wenig über meinen persönlichen Hintergrund. Ich schätze Ihre Arbeit sehr, lese in Ihren Büchern seit längerem und -vor allem- bestätige vieles mit meinem eigenen Lebensweg. Da ich seit etwa 25 Jahren an einer komplexen, schweren, chronifizierten Zwangserkrankung (Hauptdiagnose) leide, konnte ich erst zuletzt, während einer endlich erfolgreichen Therapie, beginnen, in geringem Umfang eine berufliche Tätigkeit aufzunehmen. Auf meinem langen Weg (zurück) in das Leben und in eine bedingte Lebendigkeit waren Ihre Bücher zusammen mit meiner Lebensgefährtin und dem insgesamt sehr hilfreichen Therapeuten – alle traten vor ca. 8-9 Jahren erst in mein Leben – meine wichtigsten Stützen und Impulsgeber. Ich habe über der Lektüre Ihrer Zeilen weinen gelernt.

Nun zur Projektidee.
Ich meine, daß ein in einer bestimmten Weise gedrehter Kinofilm, welcher eine Verbreitung fände wie z.B „Der Untergang“, dem oben aus Ihrer Leserbrief–Replik zitierten Ziel nahekommen kann. Natürlich weiß ich, daß allein wegen der großen Summen, die Produktion etc. eines solchen verschlingt, diese Idee als unrealisierbar erscheint, auf den ersten Blick. Aber ich glaube daran, daß es möglich sein könnte, Kräfte zu bündeln von Personen, die an Ihrem/unserem inhaltlichen Anliegen (vielleicht durch persönliche Betroffenheit) wirkliches Interesse hegen und gleichzeitig über Fertigkeiten, know-how und evtl. Kontakte verfügen.
Der Grundgedanke: Ein Film über Adolf Hitler und das Dritte Reich, in dem in das reale (zeitgeschichtliche) Geschehen immer wieder Szenen aus der Kindheit Hitlers (und vermutlich anderer seiner Zeitgenossen) zeitgleich „hineingeschoben“ werden. Dazu ein Beispiel, stellvertretend für viele, ähnlich zu konzipierende Veknüpfungsszenen: Wenn ich mich nicht täusche, war es eine Ihrer Schriften, der ich den Hinweis entnahm, der Hitlergruß (erhobene Hand hinter/neben dem Kopf) symbolisiere eine schlagende Hand (etwa des Vaters gegenüber dem Kind, u.a. dem kleinen Adolf). Ich halte diesen Vergleich, diese Entschlüsselung einer unbewußten Manifestation für sehr plausibel. Diese schlagende Vater-Figur müßte im Film nun zeitlich und räumlich/optisch so nahe an dem (Szenen-) Bild der Grußhand positioniert sein, daß es dem Betrachter unmittelbar einleuchtet, welche Zusammenhänge existieren. Ich stelle mir eine simultane Darstellung beider Ebenen vor, also ein gleichzeitiges Zeigen oder sogar eine Zweiteilung des Gesamtbildes.
Ich bin mir sicher, daß solche Bildgestaltungsmöglichkeiten / entsprechende technische „Tricks“ existieren, um immer wieder zwei Realitäten und deren (so oft ignorierten) Ursache-Wirkung-Zusammenhang in eindringlicher Weise aufzuzeigen. Ich erinnere mich an die eine oder andere Film- bzw. Werbeszene vergangener Jahre und Jahrzehnte – einige davon besitze ich noch als Video-Aufzeichnungen – in denen ähnliches ansatzweise technisch realisiert wurde, mit anderen Inhalten, natürlich.
Ich wünsche mir also, daß Schläge, Folter, Demütigungen und Zerstörung des Kindes Adolf, die Grausamkeit und Borniertheit des Vaters Alois, die Rolle der Mutter … , die Hilflosigkeit und erstickte Empörung des Kindes Adolf bebildert werden, im Alltäglichen. Ich stelle mir vor, daß dann viele dieser
Bilder und Szenen, welche für Adolfs Kinderseele vernichtend waren, verwoben werden mit weitgehend Eins-zu-Eins zuzuordnenden, historisch belegten Situationen und Szenen aus dem verbrecherischen Geschehen im Dritten Reich, fokussiert im Handeln des erwachsenen Adolf, aber nicht nur in seinem. Auch dokumentierte Elemente aus Hitlers Gedanken- und Gefühlswelt, Erinnerungen, (Alb)träume, Signifikantes aus seinen Reden, seinem Verhalten usw. können herangezogen werden, sofern sie geeignet sind, in deutlicher (Bild-)Sprache die Wirkungsmacht der in Kindheit und Jugend erlittenen traumatisierenden Gewalterfahrungen zu bezeugen.-
Die künstlerisch-kreative Herausforderung bei der Szenen-Auswahl und -Gestaltung liegt darin, möglichst eindringlich und überzeugend klarzumachen, daß Analogien, Parallelen, Entsprechungen zwischen beiden Ebenen existieren, und zwar eben nicht zufälligerweise, sondern mit nahezu zwingender Folgerichtigkeit, im gegebenen (millionenfachen) Kontext. Analogien zwischen, einerseits, der Tatsache u n d s o g a r der Art und Weise der Vernichting, welche Hitler und ähnlich Geprägte als Kinder erlitten und, andererseits, der Vernichtung, der diese als Erwachsene andere aussetzten, die genauso unschuldig waren, wie die Täter des Dritten Reiches selbst, als sie noch hilflose Kinder waren. Erst verbrannte die Welt in ihnen, dann brannten sie die Welt nieder. Daß dies für nahezu alle Ebenen der menschlichen Existenz zutraf (und mit anderen Handelnden und Inhalten auch heute zutrifft), ist hinreichend belegt.
Die gestalteten Szenen und Bilder müssen die Zusammenhänge zeigen mit einer Eindringlichkeit und Evidenz, welche es dem Betrachter so schwer wie möglich machen soll, immerneue Abwehrmechanismen gegen die vermittelten Einsichten zu aktivieren. Das ist keine Manipulation, sondern eine unverschleierte Konfrontation mit der Realität; ich setze auf die Realität.-
Das Analoge, Symbolische, Metaphorische (früher – später) im menschlichen Handeln, Erleben und Sein sollte so unzweideutig und eindrucksvoll wie möglich vor Augen geführt werden. Vermutlich wäre es sinnvoll, ergänzend, als kognitive Hilfe in geeigneter, spärlicher, aber erhellender Form(ulierung) an einigen Stellen faktische Informationen (1-2 Sätze , schwarz unterlegt, ohne Szenenbild, für einige Sekunden) zu integrieren.-
Vermutlich könnte niemand so gut wie Sie, Frau Miller, Informationen, Ideen und Impulse bzgl. der inhaltlichen Ausgestaltung von Ursache- und Folge-Situationen/Verknüpfungen einbringen.
Ich sehe im Geschehen des Dritten Reiches das größte Lehrstück der Menschheitsgeschichte – darin liegt eine große Chance. Warum sollten sich nicht Menschen finden, die dazu beitragen wollen, Ihre Erkenntnisse und Anliegen, die Sie so überzeugend darleg(t)en, anhand eines konkreten Projektes im Bewußtsein und Handeln der Gesellschaft(en) nachhaltig zu verankern? –
Das optische Medium Kinofilm sowie das Thema im Allgemeinen (vgl. „Der Untergang“) sind heute m.E. sehr medien- und massenwirksam. Wer käme als Ansprechpartner in Frage? Ich habe nicht recherchiert, mich damit nicht konkret beschäftigt. Eine Idee, einen Namen könnte ich jedoch nennen: Mark Rothemund, Regisseur von „Sophie Scholl“, von dem ich einige Eindrücke gewinnen konnte, als kürzlich anläßlich seiner Oskar-Nominierung ein Radio-Beitrag (SWR1) gesendet wurde. Ich fand ihn menschlich, als Charakter interessant, er hat nach eigenem Bekunden eine „anti-nazistische Erziehung genossen und, wie mir scheint, generell den ausgeprägten Wunsch, verstehen zu wollen. Mehr weiß ich nicht über ihn und kann auch nicht garantieren, daß es sich lohnen würde, ihn zu kontaktieren. Ich kann solche Kontaktversuche kaum selbst durchführen, da meine Mittel und Kapazität vor dem Hintergrund meiner Erkrankung und Verpflichtungen begrenzt sind. Da ich keinen eigenen Internetanschluß besitze, stieß ich auch erst vor kurzem auf jene Leserbrief-Replik aus Oct 05, dem Ausgangspunkt dieser E-mail.
W

AM: Ich habe mich über Ihr Projekt sehr gefreut, finde es ausgezeichnet und hoffe, dass Sie Menschen finden, die dessen Wert erfassen können und Ihnen helfen werden, Ihren Plan zu realisieren. Wenn ich viel jünger wäre, würde ich alles tun, um einen solchen Film mitzugestalten, aber in meinem Alter und mit meinen anderen Aufgaben ist das absolut unmöglich. Es hat mich zum Beispiel gefreut, dass Sie die Idee des Hitlergrußes (wohl aus den Wegen des Lebens?) übernommen haben, denn er ist sehr bedeutungsvoll, doch niemand hat sich bisher damit beschäftigt. Dabei könnte man doch mit diesem Bild den roten Faden des ganzen Filmes gestalten. So hat Adolf Hitler seinen Vater erlebt, dessen Begrüßung zum Leben des Kindes der wütende Schlag gewesen war. Die Angst vor dem schlagenden Vater und die Vedrängung dieser Angst durch Hass und Grausamkeit hat Adolf dem deutschen Volk als Gruß angeboten. Und Millionen haben das fraglos übernommen, weil sie ein ähnliches Schicksal hatten. “Die erhobene Hand” könnte auch ein möglicher Titel sein. Doch wie findet man begabte Leute, die nicht gezwungen sind, die Wahrheit ihrer Geschichte zu verleugnen und sich daher erlauben können, die Augen für tabuisierte Themen zu öffnen?
Es gibt heute eine ganze Reihe neuer Diktatoren, doch das Thema Kindheit ist noch so tabuisiert, dass niemand Forschungen darüber anstellt und sich fragt: Warum muss man gewaltige Waffen produzieren und ganze Nationen bedrohen, um sich sicher und nicht mehr gedemütigt zu fühlen? Und warum genügen diese Waffen und Milliardenkradite immer noch nicht? Warum geht diese Angst des Kindes im Erwachsenen vor dem Gedemütigt-sein nicht weg, auch wenn der Gegner bereits im Gefängnis sitzt? Und niemand kommt auf die Idee, die Kindheit dieser verrückten und gefährlichen Leute im Schafspelz zu untersuchen, die lieber massenhaft morden möchten als sich mit ihrem echten Leiden zu konfrontieren.
Wir werden Ihren Brief hier publizieren, vielleicht wird jemand mit Ihnen Kontakt aufnehmen wollen, um an Ihrem Projekt zu arbeiten und mit Ihnen auch an der Kindheit der heutigen Potentaten zu forschen. Das ist eine sehr aufschlussreiche Arbeit, die sehr schnell verblüffende Zusammenhänge offenlegt und AHA Erlebnisse liefert. Doch Vorassetzung dafür wäre, dass man die Angst vor dem eigenen Vater (und Mutter) kennt und nicht länger leugnet. An welche Adresse sollen sich die Interessierten wenden?

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet