Erziehung zur Artigkeit
Tuesday 09 June 2009
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Liebe Frau Miller,
Das artig und das unartig sein müssen. Der Erziehung zur Artigkeit wird alles geopfert, was unschuldig ist und was Unschuld vermag. Jeder Schmerz wird der „Unartigkeit“ des Kindes zugeschrieben. Dem Kind wird beigebracht, dass es selbst schuld ist. Dass es selbst schuld hat an seinen Schmerzen und deren Verursachung. Dass es sich selbst weh tut. Das ist sehr verwirrend, diese Lügen der Eltern. So verhindern sie den Zorn. Sie geben uns von Anfang an das Gefühl, dass wir ihnen etwas schuldig sind, dass wir uns selbst etwas zu schulden hätten.
Eine Religion/Gesellschaft/, Eltern, die nicht anerkennen, dass jedes Kind ohne Ausnahme unschuldig ist, nimmt, nein stiehlt die Würde des Opfers. Es weist Schuld zu, wo keine ist.
Nur wenn dir jemand gestattet, dich als Opfer zu fühlen, lässt er dir die Wut und den berechtigten Zorn auf alles und jeden, der dir weh getan hat. Er gestattet dir die Rebellion gegen diejenigen, die dir weh tun.
Im Grunde würde dir eine solche Religion gestatten, den Gott oder „Weg“ aufzugeben, der Gewalt zulässt. Eine Religion, die dich verantwortlich für die Schmerzen macht, die dir andere zufügen, hat keine Liebe für dich übrig. Eine Religion, die deine Unschuld nicht sieht und sich nicht mit dir empört gegen Ungerechtigkeit, ist dir nicht freundlich gesonnen.
Eine Kirche, die gegen die Unschuld der Kinder ist, unterdrückt das natürliche Recht auf Freiheit. Denn ohne Unschuld gibt es keine Freiheit.
Mit herzlichen Grüßen, HR
AM: Ich stimme Ihnen zu: Der Erziehung zur Artigkeit wird vieles geopfert, vor allem die Wahrheit, die auf den Kopf gestellt wird, wie Sie es in Ihrem Schreiben sehr deutlich machen. Fast alle Philosophen, Theologen und Pädagogen scheinen dies als unumgänglich zu akzeptieren. Die Letzteren versuchen allenfalls, die misslungene Erziehungsarbeit zu reparieren. Was können wir dagegen tun, als immer wieder zu versuchen, der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen, aufzuzeigen, dass das unschuldige Kind von Anfang an für die Taten der Erwachsenen beschuldigt und somit mit katastrophalen Konsequenzen irregeleitet wurde? In meinem letzten Buch „Jenseits der Tabus“ versuche ich in meinen Antworten gerade dies deutlich zu machen, aber nur wenige getrauen sich, das zu verstehen, weil die meisten bislang eben in diesen Tabus ihren Halt gesucht haben: „Glaube deinen Eltern, was immer sie dir sagen, und misstraue deinen Gefühlen“.