Du darfst merken

Du darfst merken
Monday 01 September 2008

Sehr geehrte Frau Miller,

ich bin am 3. Juni in eine Psychiatrie gekommen – habe mich freiwillig einweisen lassen – und habe dort endlich “Du sollst nicht merken” gelesen, was ich schon seit Jahren vor hatte. Und es ist wie ein Märchen oder eher scheint es mir als wäre das ein Wunder, wenn man tatsächlich seine Vergangenheit mal richtig, ohne den Schleier der Verwirrung, sehen lernt. Wenn man alles artikulieren darf, was einem geschehen ist.
Ich fühle mich an sich in den Therapien verloren – diese Menschen helfen mir ja, aber es scheint mir, als würde keiner recht wissen, wie man an das Problem herangehen soll. Alle halten an ihren Methoden fest, aber die durchschlagende Erkenntnis fehlt. Ich habe das Gefühl, dass alle meine Symptome behandeln wollen -“stabilisieren”- aber ich will gar nicht stabilisiert werden – ich will diese Leere nicht mehr und auch nicht die Verdrängung…
Und es ist so paradox, dass eine stationäre Traumatherapie zwar einem die Augen vor der eigenen Geschichte öffnen soll, aber einen gleichzeitig erziehen will. Wie soll ich denn lernen zu sehen und zu erkennen, was ich will – wenn man mir von Anfang an aufdrängt mich so oder so zu verhalten?
Lange Einleitung, kurzer Sinn: Dank Ihrer Bücher, durfte ich merken, dass es anders gehen muss (leider kann ich es mir in dem bürokratischen Deutschland nicht leisten die Behandlung zu bekommen, die ich mir wünsche). Aber allein schon zu wissen, dass es eine bessere Methode geben sollte (vlt. irgendwo sogar gibt) – dass es Menschen wie Sie gibt, die den Kern der Problematik verstehen. Das macht das Ganze nicht so hoffnungslos.
Und ich denke, dass es Ihre Bücher waren, die mich dazu bewegt haben, meiner Mutter gegenüber meine Enttäuschung auszudrücken und den Entschluss zu fassen, meinen Vater anzuzeigen. 4 Jahre lang eierte man mit mir rum…vlt. eierte ich auch rum, aber keiner verstand, was ich wirklich brauche…
na ja, es klingt alles ein wenig pessimistisch…
aber ich denke, dass Sie recht haben, wenn sie sagen, dass viele Therapeuten selbst in ihrer eigenen Vergangenheit stecken… dies sehe ich nämlich genauso…sonst würde man nicht in Schubladen denken und einem immer durch Grenzen und geschlossene Türen den Weg zur eigenen Erkenntnis erschweren… dies geschieht aber so oft…weil der Therapeut selbst keine Klarheit besitzt…
Danke, dass ich durch Ihre Bücher meinem Eindruck mehr vertrauen darf… und auf mein Gefühl hören möchte, anstatt auf die Maßstäbe der Gesellschaft zu hören und mich davon weiter umbiegen zu lassen…
OZ

AM: Sie sind auf dem besten Weg zu erwachen und sich besser zu helfen, als die meisten Therapeuten es können. Sie haben bereits das Spiel durchschaut. Was kann Ihnen nun die Psychiatrie bieten?

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet