“Nun ist es doch vorbei”

“Nun ist es doch vorbei”
Monday 04 May 2009

Liebe Frau Miller,

Es scheint mir, als wäre es Ihnen unangenehm, daß sie die erste Person sind, die sich für mich empört.

Ich empöre mich schon lange. Ich lese Ihre Bücher schon seit einigen Jahren. Ich erzähle allen, die mir zuhören und auch solchen, die mir weniger zuhören, weil ihnen das Thema Kindheit und Gewalt unangenehm ist, schon seit Jahren von Ihren Büchern. Ich mische mich schon seit Jahren ein. Ich erzähle jedem, der er es hören oder auch nicht hören will, von meinem tyrannischen Vater und der heiligen Mutter, was sie mir angetan haben und was mein Gefühl dabei war und ist. Ich erzähle von den Schlägen und den Demütigungen und der Isolation, der ich ausgesetzt war und der Kinder ausgesetzt sind. Ich frage immer wieder, wenn ich meiner Geburtsstadt bin und einen Klassenkameraden treffe, ob er sich an seine Kindheit und unsere Kindheit erinnert.

Ich wurde die ersten Male, da ich andere Freunde besuchen durfte, mit den Worten an die Eltern übergeben: „Und geben sie ihm ruhig eine Ohrfeige, wenn er frech ist. Er ist es so gewöhnt.“ Ich weiß, wie es sich anfühlt, vogelfrei zu sein. Ich empöre mich darüber, das mache ich schon sehr lange. Ich habe die Ironie und das Lachen, wenn es um Kinder und ihre Schmerzen geht, schon lange abgelegt. Ich kann sehr zornig und wütend sein. Ich schäme mich nicht, anderen zu sagen, daß ich, solange mein Vater lebte, Angst vor ihm hatte. Ich habe meiner Mutter gesagt, daß ich sie von ganzem Herzen hasse, für das, was sie mir angetan hat, als ich ein Kind gewesen bin. Ich schäme mich nicht, das auch andern zu sagen. Was ich aber nicht kenne, ist, daß sich auch jemand mit mir empört und entschieden Stellung bezieht, gegen die Gewalt und gegen die Verbrechen die an mir und anderen Kindern verübt werden. Die Reaktion die ich auf meine Geschichten bekomme, ist Traurigkeit. Die ist geduldet. Aber Wut und Zorn, zielgerichtet, das spüre ich bei den wenigstens, mit denen ich rede. Und dies hat mich auch immer wütend gemacht. Sie scheinen ehrlich von meinen Worten überrascht zu sein und das nicht glauben zu wollen, daß sie die erste sind, die sich mit mir empört. Für mich ist das aber so. Fast alle reagieren mit Unverständnis, manchmal auch mit einem Hang zum beleidigt sein, dass ich sie mit solchen Geschichten behellige. Die meisten reagieren mit Gesichtern die sich grämen und Kopfschütteln, mit Worten wie aus Zeitungen, warum konnte Gott das nur zulassen, oder wie meine Mutter einmal zur Fernsehnachricht, daß eine Mutter ihr kleines Kind ermordet hat, mit dem Satz: “Jede Mutter liebt ihr Kind.”

Es ist zum Kotzen!

Jetzt frage ich Sie, wie ist es denn möglich daß Sie das nicht wissen? Die Wut ist in der Gesellschaft in der ich lebe, das am meisten verpönteste. Die Kinder dürfen sie nicht zu Hause zeigen, sie dürfen sie nicht im Kindergarten zeigen und sie dürfen sie in der Schule auch nicht zeigen. Ich kenne eine einzige Mutter, eine sehr gute Freundin von mir, die hat drei Kinder, und die dürfen wütend sein und zornig und werden dafür nicht mit Liebesentzug oder anderem bedroht und bestraft. Bei den meisten anderen Familien, die ich kenne, sehe ich nur Ungeduld und Hektik.

Ich weiß, daß sich das sehr hoffnungslos anhört.

Natürlich weiß ich, das weiß ich von Ihnen und von mir, daß die Wut gut ist, daß das Verzeihen einen festhält in seinen Schmerzen, aber noch mal. Am Ende eines Gesprächs über Kindheit und über die schrecklichen Erfahrungen, reagieren die meisten am Schluß mit einem Gesicht das sagt: nun ist es aber wieder gut! Oder sie sagen: Ja gibt es denn nichts Gutes, was dir zu deinem Vater einfällt. Es kann doch nicht alles schlecht gewesen sein. Die Menschen haben Mitleid mit dem Vater, oder mit der Mutter, oder mit beiden, aber nicht mit dem Kind. Es ist zum Kotzen. Ich weiß. Sie haben Mitleid, weil sie das von Anfang an gelernt haben, wie auch ich, daß wenn mein Vater mich schlug, zum Schluß die Mutter sagte: „So jetzt ist es wieder gut. Du musst auch deinen Vater verstehen, er tut das alles nur zu deinem Besten.“ Ich hatte nie Mitleid mit meinem Vater, aber ich kenne das Gefühl, nach einem Gespräch über Grausamkeit etwas Anderes daraus machen zu wollen. Es ist, das Kind immer wieder allein lassen.

Empörung und Wut, entschiedene Stellungnahme, persönlich, im Gegenüber, der Einsatz und die Parteinahme für ein Kind passiert für mein Gefühl immer noch sehr, sehr selten.

Mit herzlichen Grüßen, HR

AM: Vielen Dank für Ihren Brief. Nein, es ist mir nicht unangenehm, es macht mich nur traurig und wütend, dass niemand in Ihrer Umgebung schon früher über das Verhalten Ihrer Eltern empört war. Doch Schläge für Kinder hält man noch heute in der “besten Gesellschaft” für absolut normal. In den 2000 Jahren seit Christus hat sich noch kein offizieller Vertreter der Kirche über diese Barbarei empört, der Heilige Augustin schrieb, wir verdienen es wegen der Erbünde, und die Päpste gehen bis heute nicht über diese “Weisheit” hinaus. Ihre Schilderung der üblichen Mentalität ist (leider) sehr zutreffend und für Menschen, die wie Sie die Ignoranz, die Lügen und die Heuchelei der eigenen Eltern durchschaut haben, fast unerträglich. Aber wir haben keine Wahl, wir wollen ja nicht zurück in die Ignoranz, wir wollen nicht wie die meisten Menschen die Muster unserer Eltern weitertragen, Muster, die uns so stark verletzt haben. Es bleibt uns nichts anderes übrig als das zu vertreten, was wir als wahr erkannt haben und den anderen zu überlassen, was sie damit machen können. Vielleicht brauchen wir auch hie und da die Hilfe der “guten Wut”?

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet