Dass Joch der Schuldgefühle

Dass Joch der Schuldgefühle
Tuesday 02 December 2008

Sehr geehrte Frau Doktor Miller,
in Ihrem Buch “Wege des Lebens“ las ich den Satz das “Schuldgefühle wehrlos machen“. Dieser Satz ist mir in Erinnerung geblieben, weil ich ihn nicht wirklich verstanden habe.
Dann las ich in einer Ihrer Antworten auf Leserbriefe das “ man einen Menschen nicht hassen kann, solange man ihn bemitleidet“.
Die enormen Schuldgefühle aus meiner Kindheit führten dazu, dass ich zu einer sehr gewissenhaften Person wurde, die sich schnell für andere aufgeopfert und mit Aufgaben und Verantwortung überladen hat. Das war das
einzige Mittel für mich, das weiß ich heute, mich einigermaßen gut und nicht schuldig fühlen zu müssen.
Dennoch war es mir möglich, für meine Eltern, insbesondere für meine Mutter, Hassgefühle zu hegen ( ab dem 12. Lebensjahr), auch war ich sehr abweisend und verschlossen in ihrer Gegenwart, später nur kühl und distanziert. Anderen Menschen jedoch, besonders wenn ich sie mochte, konnte ich Gefühl und Zuneigung entgegen bringen, jeder in meiner unmittelbaren Umgebung merkte das.
Hass ist ja ein “verbotenes und schlechtes Gefühl“ und ganz besonders dann, wenn er den eigenen Eltern gilt. Der Hass wich einem Gefühl der Gleichgültigkeit, als ich mein Elternhaus verlassen und mein eigenes Leben in Freiheit aufbauen konnte. Der Hass überkam mich jedoch schlagartig, wenn meine Eltern versuchten (erneut) ein
Teil meines Lebens zu werden, mir emotional nahe traten, mir Ratschläge geben und mich meiner “Freiheit berauben wollten“. Man versuchte mir einzureden, dass “man nicht so mit seinen Eltern sein solle“. Deshalb sei
ich “ein schlechter Mensch“ weil ich nicht “verzeihen könne“. Das machte mir Schuldgefühle, die ich mit mehr
Arbeit und viel neuer Verantwortung zu “ersticken suchte“.
Meine Eltern haben mir nicht leid getan, weil ich ihre Grausamkeit gefühlt, gesehen und erlebt habe. Nie haben sie für ihre Kinder oder andere Menschen denen sie Leid antaten, Mitgefühl aufgebracht. Merkwürdigerweise
beharrten sie auf “Mitleid“, wenn ihr grausames und gewissenloses Verhalten zu offensichtlich wurde.
Hass ist eine gesunde Reaktion auf Quälerei und macht es möglich sich zu wehren. Mitleid hemmt den Hass, der jedoch wichtig und notwendig ist, für den gesunden Selbschutz! Es ist pervers diese gesunde Reaktion unterdrücken oder gar verdammen zu wollen und führt zu Selbsthass bzw. zu Hass auf Sündenböcke.

Wenn meine Eltern mich wirklich geliebt hätten, dann wären sie nicht grausam zu mir gewesen. Deshalb haben sie meine Gefühle der Liebe für sie für immer zerstört. Das müssen sie akzeptieren, so wie ich lernen mußte mit ihrer Grausamkeit fertig zu werden.
Ich war ein ungewolltes Kind, wenn ich diese Wahrheit sehe, dann macht alles einen Sinn und keine Heuchelei, kein Mitleid mit meinen “armen Eltern“, keine Vergebung und kein Pflichtgfühl kann helfen, mein Leid ungeschehen zu machen. Ich bin aber nicht schuld daran oder gar schlecht, nur weil ich ein ungewolltes Kind gewesen bin, andere Menschen können mich lieben und ihnen bin ich wichtig, deshalb kann ich auch liebens-
wert sein, nur eben nicht für meine Eltern, die mich doch eigentlich überhaupt nicht wollten!

Meine Schuldgefühle, die mich auch wehrlos machen sollten, wurden verstärkt durch das Verbot zu hassen, eine
völlig normale und (gesunde!) Reaktion des Körpers auf Quälerei! Dank Ihrer Antwort und die Lektüre Ihrer
Bücher ist mir gewußt geworden, dass ich nicht schuldig bin wenn ich eine gesunde Empfindung ausdrücke!
Hochachtungsvoll M.L.

AM: Ich kann allem zustimmen, das Sie hier geschrieben haben, und möchte Ihnen zu Ihrer Klarheit herzlich gratulieren. Aus Ihrer neuen Perspektive können Sie sich vorstellen, wie Menschen unnötig an ihren Schuldgefühlen leiden, die sie gezwungen wurden ihr Leben lang zu tragen und von denen sie sich, im Gegensatz zu Ihnen, nicht befreien können. Ich hoffe, jemand hier wird von Ihrem Brief profitieren.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet