Haß und Wut

Haß und Wut
Sunday 22 July 2007

Liebe Alice Miller,

erst auf einem seltsamen Umweg habe ich spüren können, was Sie in Ihren Büchern meinen, wenn Sie von der Wut und dem Haß sprechen, die Kinder verspüren und doch unterdrücken müssen – und später wenden sie den Haß und die Wut gegen sich selbst oder ihre eigenen Kinder.
Ich habe keine Kinder und auch keine Freunde. Seit Jahren spüre ich überwältigende Trauer, die in einer schweren Depression mündete; jahrelange ärztliche Behandlung und Anti-Depressiva! Die Depression wiederum führte dazu, daß mein ganzes bisheriges, mühsam geführtes Leben zusammengebrochen ist. Ich habe mich von meinen verständnislosen Freunden abgewendet – von ihnen bekam ich nur zu hören, man müsse doch endlich mit seiner Vergangenheit abschließen oder „Es mag ja sein, daß deine Eltern nicht gerade freundlich mit dir umgegangen sind, aber sie wollten doch nur dein Bestes. Irgendwann muß man ihnen doch verzeihen – zumal wenn sie schon länger tot sind.“
Ja, es stimmt, meine Mutter ist schon mehrere Jahre tot – aber sie beherrscht mein Leben immer noch mit ihrer Kritik und ihren negativen Unterstellungen. Jetzt, da ich mich von meinen Freunden zurückgezogen habe und da meine Depression mich am Arbeiten hindert und mich in die Sozialhilfe geführt hat, höre ich ihr schallendes „Ich habe es ja gesagt, du wirst noch in der Gosse enden!“ – Natürlich hat sie nicht recht, aber ich versuche ständig, sie zu entschuldigen: sie hatte selbst eine schwere Kindheit, ist in der Nazizeit und im Krieg aufgewachsen, ihr eigener Vater war übergriffig und bösartig. Daß sie all das an mich weitergegeben hat, das weiß ich längst, aber immer wieder entschuldige ich sie und beschuldige mich der Faulheit, der mangelnden Fähigkeit, mich durchzusetzen – oder ich beschimpfe mich einfach als Versager. Ich wüte seit Jahren gegen mich selbst, das erkenne ich zwar intellektuell, aber ich spüre die Wut nicht, von der Sie immer sprechen, sondern nur dumpfe Verzweifelung.
Aber hier ist der Umweg, auf dem ich diese Wut und den Haß aufeinmal doch spürte: meine tagtägliche Einsamkeit hat dazu geführt, daß ich mir ein Paar Papageien angeschafft habe, damit ich wenigstens zwei Geschöpfe habe, mit denen ich sprechen kann. Diese beiden Tiere aber beschäftigen sich nur miteinander; es gelang mir trotz entsprechender Vorkenntnisse nicht, diese beiden Vögel zu zähmen. Im Gegenteil, sie reagieren auf mich nur mit Angst, sie schreien und springen im Käfig herum, wenn ich mich nur nähere. Sie fressen Tapeten, Holzrahmen von Türen und Bildern, nagen Möbel an und ich springe deshalb ständig hinter ihnen her, beschimpfe sie, jage sie – und habe nun nach acht Monaten, in denen sie mich „zur Weißglut getrieben haben“ nur noch einen unbändigen Haß auf sie. Es ist ganz klar, daß sie instinktiv meine Abneigung spüren – wie anders sollten sie sich auch verhalten!? Meine Wut ist manchmal so unerträglich, daß ich auf ihrem Käfig herumschlage, nur um sie noch mehr einzuschüchtern. Natürlich überwältigt mich dann auch die Scham, daß ich die Tiere quäle, die nur ihren Instinkten folgen. Inzwischen habe ich mich entschlossen, jemanden zu suchen, an den ich die Tiere abgeben kann; manchmal überwältigt mich der Gedanke, ich könnte sie einfach aussetzen oder ihnen den Hals umdrehen. Das könnte ich allerdings nicht tun – davor habe ich die größte Angst; denn eigentlich tun mir die Tiere entsetzlich leid. Ich habe von ihnen Zuwendung erwartet, die sie mir nicht geben können – es sind eben Tiere mit größtem Freiheitsdrang.
Und erst jetzt wird mir klar, wie sich einst gequälte Eltern gegenüber ihren Kindern verhalten – ich lasse all meine Wut und Frustration eben an diesen unschuldigen Vögeln aus. Der Ausdruck „zur Weißglut treiben“ treiben, den ich oben hervorgehoben habe, ist nicht zufällig gewählt – zwar empfinde ich diese Wut so – aber der Begriff, daran habe ich mich erst heute erinnert, stammt von meiner Mutter, die ihn stets im Munde führte. Immer hieß es: ihr Kinder treibt mich zur Weißglut!
Wenn ich nur diese eigene Weißglut nicht auf unschuldige Geschöpfe richten könnte, sondern auf sie – aber da ich in den vergangenen Tagen darüber nachdenke, erinnere ich mich auch an andere Episoden, die zeigen, daß meine Mutter eben nicht die uneigennützige Frau war, als die sie sich ihren Kindern und anderen gegenüber darstellte.
Ein Beispiel: immer wenn meine Geschwister und ich sie fragten, mit was wir ihr denn zum Geburtstag oder zu Weihnachten eine Freude machen könnten, dann bekamen wir zu hören: „ich will doch gar nichts, ich will doch nur liebe und brave, artige Kinder.“ Das ließ uns hilflos zurück, weil wir natürlich dachten, egal, was wir ihr schenken, es reicht nicht – und wir dachten: was müssen wir bloß für schreckliche Kinder sein, wenn das ihr einziger Wunsch ist…
Gestern habe ich auch noch eine Episode von meiner Schwester erfahren, die zeigt, wie wenig meine Mutter an ihre Kinder und sogar noch an ihre Enkel dachte…
Auf einem Spaziergang mit ihrer dreijährigen Enkelin, fing das Kind schrecklich an zu weinen. Nach unserer Mutter habe sie gar keinen Grund dazu gehabt. Das Kind hat sich so sehr ins Schreien und Weinen hineingesteigert, daß die Großmutter es rasch wieder nach hause zerrte. Dort teilte sie meiner Schwester mit, sie werde nicht mehr mit dem Enkelkind ausgehen – es sei ihr schrecklich peinlich gewesen, daß das Kind so ungezogen geschrieen habe. Die Passanten hätten ja denken müssen, das Kind sei unerzogen und sie habe es nicht im Griff. – Daß etwa die Passanten auf den Gedanken hätten kommen können, sie habe dem Kind etwas angetan, darauf kam sie nicht. Heute weiß ich, nicht das Kind kümmerte sie, sondern nur ihr Ansehen wildfremden Menschen gegenüber.
Eine zweite Geschichte bestätigt das – meine Schwester hatte einmal wohl vergessen, daß sie sowohl unsere Mutter als auch mich gebeten hatte, die dreijährige Tochter zu sitten. Wir hatten beide Zeit und waren gleichzeitig erschienen. Da kam meine Schwester auf den fatalen Gedanken, das Kind zu fragen:“wer soll denn bei dir bleiben, die Oma oder M.?“ Das Kind sagte ohne Umschweife:“ja, dann M.!“ – Da fing unsere Mutter an, bitterlich zu weinen; sie fühlte sich von dem kleinen dreijährigen Mädchen zurückgewiesen. Ich bot an, zurückzutreten – aber beleidigt wehrte sie ab und verließ die Wohnung. Und das Kind konnte gar nicht verstehen, weshalb sie die Oma so traurig gemacht habe und hatte bereits ein schlechtes Gewissen.
Noch eine Geschichte von Wut möchte ich erzählen:
Als mein damals achtjähriger Bruder unserem Vater beim Spielen einen Rechenschieber zerbrochen hatte (natürlich durfte er die Sachen unseres Vaters nicht anrühren), schäumte unser Vater vor Wut. Er hat uns nie geschlagen, aber seine Wut richtete sich dann auf andere Dinge: in diesem Fall rannte er in den Keller und zersägte meinem Bruder das liebste Spielzeug, das er erst wenige Monate zuvor zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte: ein Kett-Car. Es braucht natürlich eine Weile, bis man mit einer Eisensäge so ein Gefährt in Teile zerlegt hat. Rund zwei Stunden tobte sich mein Vater daran aus. Heute glaube ich, daß für meinen Bruder da eine Welt zerbrach. Ich würde gerne mit ihm einmal darüber sprechen – aber wir haben den Kontakt verloren, seit ich mich von meinen Eltern distanziert habe. Seit dem Tod unserer Mutter kümmert sich mein Bruder aufopferungsvoll um unseren Vater, der das als selbstverständlich hinnimmt. Mein Bruder hat auch keine Kinder, sondern nur zwei Hunde, die sogar ein eigenes Zimmer in der Wohnung haben und die er verwöhnt wie Menschen. Da sehe ich schon Parallelen zu mir…
Es ist ja schon sehr schlimm, wenn ich mich als Tierquäler oute, aber erst jetzt spüre ich Wut, Zorn und Haß – ich will diese Vögel nicht mehr in meiner Nähe haben. Es ist ja auch besser für die Tiere. Aber diese Wut ist natürlich keine Wut auf die beiden kleinen Geschöpfe; das habe ich jetzt durch Ihre Bücher gelernt. Aber noch immer scheue und schäme ich mich, die Wut über meine Mutter vor allem herauszulassen; obwohl ich zuweilen innerlich vor Wände laufe und mich fühle als hätte ich mir daran die Stirn blutig geschlagen. Und dann schäme ich mich natürlich auch, daß ich Wut auf eine Tote habe – meine Mutter starb übrigens ganz unerwartet ein Woche, bevor ich zwanzig Jahre nach meiner Volljährigkeit, endlich den Mut aufbrachte, aus der gemeinsamen Heimatstadt wegzuziehen. Ich sehe das immer so, als sei das ihr letztes Mittel gewesen, mich zu halten; als sei sie vor Verzweifelung, mich nicht mehr in der Hand zu haben, gestorben.
Das erinnert mich an eine Erählung von Sommerset Maugham: „Louise“; ich hoffe, ich gebe den Inhalt korrekt wider: Louise, so beschreibt sie der Erzähler, gilt in der Gesellschaft als aufopferungsvolle Mutter, aber er berichtet genau, wie sie ihre Tochter beherrscht. Sie behauptet ständig, krank zu sein – und selbst die kleinste eigenständigste Regung der Tochter kränkt sie. Die Tochter heiratet nicht, kümmert sich um ihre Mutter, verhärmt vollständig und stirbt. Von nun an kümmert sich eine Freundin um Louise – und die Mutter verhält sich erneut so wie zuvor. Der Erzähler stellt Louise endlich nach Jahren zur Rede und nennt sie selbstsüchtig, gehässig und mißgünstig. Sie jammert herum, daß sie doch immer nur das beste für ihre Tochter gewollt habe, und daß sie jeden Tag sterben könne, so krank sei sie. Man werde das schon sehen. Der Erzähler verläßt Louise wütend: am nächsten Tag stirbt sie. Und der Leser weiß: sie tat es aus bloßer Gehässigkeit, um jenen Mann ein Leben lang mit schlechtem Gewissen zu strafen. – Nun, so empfinde ich den Tod meiner Mutter. Es ist fast ungeheuerlich so etwas zu sagen – und es ist das erste Mal, daß ich diesen Gdanken jemand anderem mitteile; denn auch meine Mutter drohte unzählige Male: Du bringst mich noch ins Grab! Du bist noch mein Tod!
Ich fühle mich so elend, diese Wahrheiten auszusprechen, so kaltblütig und niederträchtig – es ist ja kein Wunder, daß sich diese Verzweifelung ihr Ventil sucht – und dann lasse ich es an zwei unschuldigen Tieren aus.
Immerhin habe ich es jetzt endlich einmal berichten dürfen – meine Angst vor meiner toten Mutter läßt keine Wut zu , die sich gegen sie richtet. Wird das jemals anders werden?

Vielen Dank, daß Sie uns die Möglichkeit geben, all diese Erinnerungen und diese Trauer wenigstens einmal aussprechen zu dürfen. M.

AM: Ich halte es für einen genialen Einfall, sich in Ihrem Fall die beiden Papageien anzuschaffen. Die meisten Menschen schaffen sich Kinder an, um ihre Geschichten mit den Eltern zu wiederholen. Aber im Unterschied zu Ihnen machen sie sich keine Gedanken über ihr Tun, sie schlagen ihre Wut in die Kinder hinein und schädigen sie fürs Leben.
Sie hatten einen schwer sadistischen Vater, der zwei Stunden lang mit Genugtuung und Freude an dem geliebten Spielzeug seines Kindes, Ihres Bruders sägte. Was mussten auch Sie von diesem Monster erleiden? Darüber schreiben Sie nichts, vermutlich aus Angst vor seiner Rache. Kein Wunder, dass Sie Ihre Wut für Jahrzehnte in Ihrem Körper festhalten und ihn damit vergiften, aus panischer Angst vor der WEIßGLUT Ihrer Mutter und den Strafen, die Sie hätten erleiden müssen für jedes Wort, das nicht ARTIG gewesen wäre. Die beiden Papageien müssen zwar etwas erleiden, aber sie scheinen sich ganz gut zu wehren. Ihnen aber helfen sie enorm, mit Ihrer Wut in Kontakt zu kommen und damit Ihr wahres Selbst aus der grauenhaften, begreiflichen Angst des Kindes, das Sie waren, zu befreien. So bekommen Sie die Chance, Ihre wahren Emotionen, Ihren absolut gerechtfertigten Zorn zu erleben und emotional gesund zu werden. Dank den Vögeln können Sie genau beobachten, was in Ihrer Kindheit geschah und wie ein freies Kind darauf hätte reagieren müssen, wenn es nicht brutal daran gehindert worden wäre, wenn es nicht in Todesängsten aufgewachsen wäre. Das müsste Ihnen helfen, Ihre Schuldgefühle loszuwerden und zu wagen, Ihre grausame Mutter damit in Weißglut zu treiben, denn erstens hat sie Ihre Reaktion reichlich verdient und zweitens galt ihre Weißglut nicht Ihnen, sondern ihren eigenen Eltern. Sie waren der unschuldige Auslöser.
Sie haben bereits viel Einsicht, ich wünsche Ihnen den Mut, um diese umzusetzen. Es drohen Ihnen heute absolut KEINE Gefahren seitens Ihrer Eltern, höchstens nur seitens der destruktiven traditionellen Moral. Aber auch dieser werden Sie Einhalt gebieten, mit Hilfe Ihrer Papageien vielleicht, die Sie noch möglicherweise eine Weile brauchen werden, bis Sie von den Schuldgefühlen GANZ frei geworden sind.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet