Eine grausame Verwirrung
Sunday 12 July 2009
Sehr geehrte Frau Doktor Miller,
der Leserbrief “Lähmende Schuldgefühle“ hat eine alte Erinnerung zurückgebracht, über die ich einmal im Childhood Forum berichtet habe. Weshalb fühlten wir uns immer schuldig, können keine Wut zeigen, haben
Panik, denken ständig an die Familie (…) die uns einst so schlecht behandelt hat?
Erziehung hieß Heuchelei, Manipulation, Kontrolle oder totale Gleichgültigkeit. Die Eltern waren unfehlbar,
übermächtig und immer im Recht, die Kinder machtlos, nie im Recht und nie gut genug!
Der Wille meiner Mutter war Gesetz, es herrschte eine kasernenartige Atmosphäre in ihrem “Reich“, auch
ihr Ehemann mußte die Regeln, inklusive die zeitlichen Vorgaben der erlaubten Abwesenheit, strikt befolgen.
Manchmal kam er einfach nicht vor Mitternacht nach Hause und war er bis 23 Uhr noch nicht aufgetaucht,
dann weckte meine Mutter mich und meinen Bruder, wir mußten ihr beim Kofferpacken helfen. Mein Vater
war manchmal freundlich zu uns und für mich und meinen Bruder war er ein Lichtblick, er beschimpfte uns
nicht fortwährend und deshalb “liebte er uns“, dass habe ich gedacht und auch mein Bruder. Ohne ihn (…)
wären wir verloren und deshalb fingen wir immer an zu weinen und flehten meine Mutter an, bitte den Vati
nicht (…) er wird doch gleich kommen, das machte alles nur schlimmer.
Während wir flehten und Koffer packten wütete sie herum und wir mußten mit anhören, was mein Vater für
ein (…) sei und das er mit irgendwelchen Frauen (…), es war kaum zu ertragen, unser von uns sehr gemochter
Vater wurde schrecklich schlechtgemacht und wir weinten. Dieses Weinen verschlimmerte aber auch ihre
Wut, wir wurden zur Zielscheibe, schlechter Vater ist ja klar, da können ja nur solche nutzlosen (…) Gören
wie ihr (…) und er kommt wegen euch nicht mehr, ihr seid so böse (…). Stand er vor der Tür dann flehte er
ca. 3 Stunden um “Einlass“ sie beschimpfte ihn, ließ ihn weiter betteln (…) wir weinten im Hintergrund.
Das war ein Machtkampf, mein Vater schmeichelte meiner Mutter immer drei Tage um wieder “aufgenommen
zu werden“, aber diese drei Tage waren für uns immer sehr schlimm, wir hatten Angst vor der Scheidung und
davor, unseren Vater zu verlieren (wie wird es ausgehen?).
Unsere emotionale Verfassung war schlimm zu dieser Zeit und in der Schule wurde ich dann öfter zu meiner
Klassenleiterin gerufen, die mich bei meinen Eltern einen Termin von der Schule übermitteln ließ, meinetwegen.
Sofort fühlte ich mich verzweifelt, ich fragte sie schüchtern nach dem Grund, ich hätte doch nichts gemacht (…).
Sie blieb “hart“, kam meine Mutter von den “Unterredungen“ zurück, dann gab es “Aussprachen“, ich hätte ein
halbes Jahr nicht gelacht, sei irgendwie unnormal (…). Wenn du schwachsinnige (…) Göre so weitermachst, dann
werde ich mich mit Vati scheiden lassen, der hat die Nase voll von euch faulen und dummen (…) Gören.
Seid dieser Zeit wußte ich genau, dass mein Verhalten überall und jederzeit richtig sein mußte, damit meine Eltern keinen Ärger wegen mir bekommen, das würde ihre Ehe (…) zerstören, also kann ich jederzeit meine
Familie verlieren wenn es mir nicht gelingt (…) brav zu sein.
Es war ein Machtkampf zwischen meinen Eltern, mein Vater flüchtete vor ihr, sie machte Druck mit diesen “Szenen“. Was aber fühlten wir Kinder, wir waren schuld das mein Vater wegen uns nicht nach Hause kam,
außerdem waren wir schlecht, weil unser Vater schlecht war, wir waren sogar so schlecht, das auch die Ehe meiner Eltern auf dem Spiel stand, wenn wir uns in der Schule oder bei einer anderen Gelegenheit nicht richtig
verhalten haben, dann konnte das zu einer Scheidung führen (…). Jede Kleinigkeit (schlechtes Benehmen in
der Schule) hätte den Verlust der Familie zur Folge haben können, alles hing offenbar von den Kindern ab,
haben wir deshalb vielleicht solche Panik wenn es um Wut zeigen, das “richtige Benehmen“ (…) oder Schuld-
gefühle geht?
Es erging uns doch ähnlich wie einem “Hamster im Laufrad“, immer alles richtig machen, endlos anstrengen,
sonst Verlust der Familie, noch mehr anstrengen, dann “werden wir gemocht“, kleiner Fehler, wir sind schlecht
oder wieder “schuld an den Eheproblemen“ der Eltern (…), na ja, also wieder versuchen alles auszugleichen und
gut zu machen (…) und die ganze Zeit dreht sich das Rad, am Ende steht immer DU BIST SCHULD AN (…).
Jetzt sind wir raus aus dem Rad, aber eine ähnliche Situation bringt die gleichen Gefühle zurück, bewirkt Schuld/
Angstgefühle oder sogar Panik. Wir kannten nur das Laufrad, nichts anderes, und das müssen wir erst realisieren, alles neu erlernen.
Hatten nicht all unsere “Fehler“ für die Familie immer “fatale Folgen“ und dieser Druck hat uns zu immer höheren Leistungen getrieben? Unsere Kindheit ist voll mit solchen Erlebnissen und darauf basierenden Erfahrungen, die Schuldgefühle haben ihre Wurzeln darin und müssen nach und nach “ausgegraben“ werden.
Dieses Erlebnis führte dazu, dass ich über Jahre hinweg geglaubt habe “die Gefühle und Handlungen meiner Mitmenschen in Ordnung bringen zu müssen, um für vergangene oder zukünftige Vergehen zu büßen (Susan Forward / Emotionale Erpressung). Vielleicht kann meine Beschreibung hilfreich sein, um die Entstehung und
die Herkunft von (unnötigen!) Schuldgefühlen besser verstehen zu können, was mich sehr freuen würde.
AM: Ich denke, Ihre Beschreibung ist sehr hilfreich, sie zeigt eben, wie man aus einer totalen Verwirrung und Schuldzuweisung herauskommen kann, wenn man will. Die Qualen und Verwirrungen, denen Ihre Mutter Sie ausgesetzt hat, erinnern an den Horror im KZ. Da sieht man auch, wo die Aufseher ihre Methoden gelernt haben: immer in ihrer Kindheit. Es ist ein Wunder, dass Sie sich davon befreit haben und ein fühlender und denkender Mensch geworden sind. Doch Ihr Brief zeigt auch, weshalb so viele Ratschläge zur guten Erziehung wirkunggslos sind. Solange so schreckliche Erlebnisse, die den Ihren gleichen (und das geschieht häufig) im Dunkel der Verdrängung bleiben, setzen sich diese starken Erinnerungen in Form von Wiederholungszwang durch. Die nächste Generation muss für die VERLEUGNUNG DER ELTERN BEZAHLEN. Wie könnte man den einst misshandelten Menschen zeigen, dass sie zwar ohne Verleugnung die Kindheit nicht überlebt hätten, aber dass sie als Erwachsene diese tiefe Verleugnung nicht länger zum Überleben brauchen, dass sie heute für das Wissen nicht bestraft, sondern eher belohnt werden – vom Leben? Ihr Brief ist ein Beispiel dafür.