revolte des körpers

revolte des körpers
Wednesday 24 October 2007

Sehr geehrte Frau Miller,
mit großem Interesse und ebensolchen neuen Erkenntnissen über meine eigene Kindheit habe ich Ihr Buch “Revolte des Körpers” gelesen: als Mutter eines nunmehr 18jährigen und eines 15jährigen geistig behinderten Sohnes sind mir die durch mich und meinen Mann an unserem älteren Kind begangenen seelischen Mißhandlungen (und zum Teil auch die darin verborgenen Ursachen) sehr deutlich geworden!
Ich selbst wurde- wie auch meine Schwester – zu einem sogenannten braven und lieben Mädchen erzogen, das nie unangenehm auffällt und bei jedermann beliebt ist. Dieses Muster gab ich unbewußt an meinen erstgeborenen Sohn weiter, welcher durch die Geburt seines behinderten Bruders somit noch stärker unter diesen Druck gerät; gleichwohl mußte er auch noch die Defizite seines Bruders ausgleichen.
Mein Mann ließ mich in dieser Situation ziemlich allein, verreiste oft am Wochenende und entzog mir gar die Hilfe, als ich mit einem Unterarmgips die beiden kleinen Kinder versorgen mußte (“deine Mutter kann ja kommen und dir helfen”).
Parallelen zu meiner Kindheit: nie erfuhr ich die uneingeschränkte und ehrliche Hilfe und Unterstützung meiner Eltern, vornehmlich meiner Mutter; mein Vater verhielt sich in der Regel neutral, meine Mutter überhäufte mich stets zuerst mit Vorwürfen und Ermahnungen. Zudem weinte sie sich bei mir über ihre unglückliche Ehe aus: diese Situation brannte sich förmlich in meine Seele ein; ich fühlte mich äußerst peinlich berührt, überaus wütend auf meine Mutter ob dieser Überforderung und Zumutung und grenzte mich ab da emotional sehr stark gegen meine Mutter ab. Zu meiner Schwester stand ich stets in einer Art Konkurrenzverhalten: wer sich am besten benahm, bekam mehr Liebe und Zuwendung. So versuchte ich meine Schwester darin zu übertrumpfen. im Gegensatz zu ihr Abitur zu machen. Dies kostete mich sehr viel Kraft, so dass ich mir (leider) anschließend kein Studium zutraute.
Unser Großer entwickelte mit 12 Jahren eine Zwangserkrankung, und obwohl die Kinderpsychiaterin uns stets von Schuldgefühlen freigesprochen hatte, fühlte ich doch instinktiv, dass unser unbewußt durch den Schock der Behinderung des zweiten Sohnes hilfloses und verletzendes Verhalten diese Erkrankung hervorgerufen hatte. (Nach 5 Jahren Therapie inklusive Medikamentengabe kann er wieder ein Leben ohne Zwänge führen, neigt aber zu depressiven Verstimmungen)
Meine Frage nun: wie kann ich meinem großen Sohn helfen, diese Verletzungen zu verarbeiten, so dass eine ehrliche und auch gute Beziehung zwischen uns wachsen kann?
Über eine Antwort von Ihnen wäre ich sehr, sehr dankbar und grüße Sie herzlichst,
engelkind

AM: Ihre Sorge ist durchaus verständlich, zumal Sie bereit sind, die Zusammenhänge zu verstehen, was nicht oft der Fall ist. Vielleicht ist es Ihnen möglich, Ihren Sohn Ihre Bereitschaft zum Dialog und zur ehrlichen Beantwortung SEINER Fragen spüren zu lassen, wenn ER das wünscht, ohne ihm diese aufzudrängen. Kinder fühlen sich dann oft gezwungen zu etwas, das sie vielleicht im Moment gar nicht wollen. Vielleicht können Sie sich mein neues Buch DEIN GERETTETES LEBEN besorgen (evtl. aus der Bibliothek ausleihen) und das erste Kapitel aufmerksam durchlesen. Das mag Ihnen eine Idee geben, wie Sie sich jetzt verhalten möchten. Versuchen Sie, Ihren Sohn vor Helfern zu schützen, die ihm Medikamente gegen Ängste verschreiben. Zwänge sind ein Ausdruck von Angst vor den eigenen unerwünschten Gefühlen. Die Depression auch. Diese Angst müsste nicht noch mehr unterdrückt werden, wenn die begreiflichen Gefühle gelebt werden dürfen. Zu diesem Verständnis können Ihre Haltung und Ihr heutiges Wissen beitragen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet