Die Macht der Verdrängung

Die Macht der Verdrängung
Friday 09 June 2006

Sehr geehrte Alice Miller!
Nach dem E-Mail-Austausch mit Ihnen und auch Lesen Ihrer Website und der Bücher “Das Drama des begabten Kindes, eine Um- und Fortschreibung” und “Die Revolte des Körpers” spürte ich ein lang ersehntes Verstandenwerden und eine Sicherheit, ein Selbst-Bewußtsein, und ein langsames Auflösen meiner Symptome: Menschenangst, Hundeangst, Depressionen, Anklammern an Freund, Kritiksucht an Freund, psychosomatische Beschwerden(Bauchkrämpfe, Rückenschmerzen, Kopfweh, Stiche hier und da, Zahnweh, usw), erkannte die Gründe meines Kettenrauchens (Füllen des Lochs, das entsteht, wenn ich “ich selbst” bin aufgrund des darauffolgenden Liebesentzugs, den ich so gespeichert habe), usw…ich konnte mein Mitleid und meine Sehnsucht meinen Eltern gegenüber langsam auflösen, indem ich stattdessen mir selbst gegenüber Mitgefühl entwickelte, und wendete mich mehr mir selbst zu, statt ihnen. Nachts gab mir mein Unterbewußtsein vermehrt klarere Botschaften über meine tiefsitzenden Gefühle von Schrecken, Ekel, Angst, in Träumen, Flashbacks, usw ..zB auf meinen Vater bezogen, den ich besonders idealisierte, da meine Mutter schon beängstigend “genug” auf mich wirkte, aber leider gibt es auf ihn bezogen Erinnerungen bzgl. sexuellen Mißbrauchs, die ich am meisten verdränge, als diese hochkamen, hatte ich tatsächlich das Gefühl, sterben zu müssen, körperlich, daß das Herz stehen bleibt, so daß ich diese Erinnerung nach wie vor dennoch weiter verdränge.
Wenn ich meinem Freund von Ihrer Einstellung erzähle, findet er diese einerseits gut, andererseits ist er sehr stark katholisch geprägt und will davon nicht ablassen, zB das Vergebung richtig sei. Er wendet sich jedesmal ab, wenn ich ihm von meinen Kindheitserfahrungen erzählen will, was mich tief verletzt. Andererseits sagt er, er merkt, wie gut es mir tut, seitdem ich mich Ihren Ansichten angschlossen habe, mir selbst treuer werde und meine Erinnerungen zulasse. Er behauptet, es stimme nicht, daß er sich nicht für meine Kindheitserlebnisse interessiere. Ich bin verwirrt über ihn. Aber es ist mir so wichtig, von ihm gehalten zu werden, ich habe keinen anderen Menschen in meinem Leben.
Ich bin immer noch sehr beeinflußbar, sobald ich zb ein Buch über Esoterik oder andere Selbsthilfebücher lese, oder etwas aufnehme, höre ich auf, bei mir selbst zu bleiben. Ich bin schwach und brüchig. Ich falle so schnell in die Verleugnung, um schnell wieder zu merken, wie sehr diese schadet, und dann wieder den brodelnden ohnmächtigen Haß zu empfinden. Das geht schon mein Leben lang so.
Sie und ihre Ansichten, die mir so helfen, wirken aber auch “gefährlich”, ja “teuflisch” auf mich. Ich habe Angst und denke, dies ist die Angst des Kindes vor seinem Vater, das diesem nicht widersprechen darf. Mich Ihrem Denken anzuschließen, was heißt, mir selbst treu zu sein, mich selbst ernstzunehmen, und stattdessen meine Eltern in Frage zu stellen, bedeutet gleichzeitig deren erhoffte “Liebe” zu verlieren. Es kommt mir “teuflisch” vor, und macht mir Angst, etwas falsch zu machen und dafür in der “Hölle” zu weilen. So etwas muß mir als Kind eingeredet worden sein. (Tatsächlich gab es, als ich 14 war, jemanden, den damaligen Freund meiner Schwester, der von Ihnen gelesen hatte und sich meiner annahm, woraufhin meine Mutter meinte, ich solle mich von ihm fernhalten, er sei ein “Bote des Teufles” und Sie seien gefährlich, da Sie nur drauf aus seien, zum Haß auf die Eltern aufzurufen. Ach, und als ich mit 23 Jahren meine Mutter auf ihren Kindesmißbrauch von ihrem Vater ansprechen wollte, brach sie wütend das Gespräch ab. Sie blieb dabei, daß ich sie ja nur hasse und wollte nicht von mir hören, daß ich versuche, sie zu verstehen vor dem Hintergrund, daß sie selbst mißbraucht wurde, also Frieden schaffen wollte.)
Ich habe die Ahnung, daß es wichtig wäre, mich nicht mehr nur in Flashbacks, Träumen, Körpergefühlen, Neurosen, Ängsten, Übertragungen, ect zu erinnern, sondern auch vollständig bzw in den wichtigsten prägensten Erfahrungen kognitiv zu erinnern. Nur, wie geht das, wenn die andere Seite so mächtig ist: die Angst des Kindes vor den Eltern und überhand nimmt bzw dann allzu gerne aufnimmt, was die ganzen Verwirrer einem einreden wollen, um einen vor der Wahrheit wegzubringen und im Sumpf festzuhalten?
Ich habe so eine große Sehnsucht, endlich rausgehen zu können und arbeiten zu gehen, aber jedesmal, wenn ich mir einen Job gesucht habe, kommt eine dermaßen starke Angst hoch, ich fühle dann wie ein Kleinkind, das verstoßen wird und zu Kinderarbeit gezwungen und gefoltert wird, in einer vernebelten, gruseligen Welt, will dann sofort wieder ins Schlupfloch zu meinem Freund, in dem ich eine Art Mütterlichkeit haben will. Der jedoch enttäuscht mich dann oft genug mit seiner eigenen Kindlichkeit, seinem Nichtzuhörenkönnen, seinen Aggressionen wegen Alltagskleinigkeiten, seiner Hypochondrie, usw..
Ich finde einfach keinen Halt. Ich weiß jetzt, daß ich diesen nicht mehr suchen sollte, da ich das Kind nicht mehr bin und stattdessen das Fehlen dieses Haltes von damals betrauern sollte und ihn mir nun in dem Sinne also selbst geben könnte.
Aber ich habe den Eindruck, das mein Festhalten nicht aufhört, solange meine kognitiven Erinnerungen an die Tatsachen nicht vollständig genug sind. Ich dachte immer, meine emotionalen Erinnerungen sind bereits vollständig genug, aber nach dem Erlebnis in der Nacht (Erinnerung an meinen Vater) wird mir klar, daß selbst dem nicht so ist, daß ich auch emotional verdränge, daß da noch schlimmere Erlebnisse waren, als ich sie jetzt bewußt emotional erinnere. Das ist mir unheimlich.
Aber ich finde keinen wissenden Zeugen, der mit mir dadurchgeht. Mein Freund ist dazu nicht in der Lage. Aber ich habe keine Kraft, mir einen Therapeuten zu suchen, zumal ich zuviele schlechte Therapeuten in den letzten Jahren bereits schon hatte.
Kann ich anfangen, mir selbst ein wissender Zeuge zu sein?
Ihre K.S. (ich hasse es, noch diesen Nachnahmen haben zu müssen)

AM: Natürlich haben Sie das Meiste verdrängt, das mussten Sie, sonst hätten Sie den Koschmar nicht überlebt. Aber Sie brauchen nicht zig Erinnerungen zu suchen. Halten Sie sich an diese eine: Sie sind 14 Jahre alt, Ihre Gefühle erwachen wie in jeder Pubertät, Sie spüren das Leben, dann kommt Ihre Mutter und warnt Sie vor dem Teufel, nur um ihre verdrängten Traumen nicht erinnern zu müssen. So werden Sie und Ihre Lebendigkeit geopfert. Und dieses Verhalten Ihrer Mutter wiederholen Sie jetzt, immer wieder. Sie machen Fortschritte, spüren das Leben in sich, aber Sie wollen es sich nicht erlauben, weil sie der Stimme Ihrer Mutter immer noch, wie damals mit 14, hörig sind. Versuchen Sie mit Hilfe dieser einen Erinnerung zu arbeiten, immer wieder, und Sie werden sehen, dass der Teufel Sie nicht holen wird, ganz im Gegenteil, Sie werden ihn verjagen, für immer.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet