Bettnässen

Bettnässen
Tuesday 13 November 2007

Werte Frau Miller,

ich möchte mich ganz herzlich für Ihre Antwort auf meinen Brief vom 20.7.06 sowie für Barbaras Antwort (an Barbara werde ich noch zu einem späteren Zeitpunkt schreiben.) auf meinen Brief vom 2.8.06 bedanken. Theoretisch kannte ich die Antworten schon, brauche aber immer noch eine „Rückversicherung“. Meine Geschwister und auch mein Vater kennen inzwischen den Brief vom 20.7.06 und jetzt tobt der Mobb. Meine beiden jüngeren Geschwister und mein Sohn stehen auf meiner Seite, die anderen beiden Geschwister sehen mich als Verräter, während mein Vater einige meiner Erinnerungen bestätigt hat. Andererseits hat mein Vater versucht, mich emotional zu erpressen, deshalb habe ich ihn einen Tag vor seinem 84sten Geburtstag vor die Tür gesetzt. Ein paar Wochen vorher hatte man (besorgte Dorfbewohner) mir bereits die Pfarrerin auf den Hals gehetzt, aber da habe ich Klartext geredet und wurde verstanden. Ich habe aber noch eine Frage, die mir unter den Nägeln brennt, die aber irgendwie auch ein Tabuthema ist, und zu der ich bisher keine befriedigende Antwort gefunden habe, weder in Ihren Büchern noch sonst wo:

Steht Bettnässen mit einer „Vergifteten Kindheit“ im Zusammenhang?

Ich werde meine Erinnerungen zu diesem Thema so schildern wie ich sie meiner kleinen Schwester erzählt habe:

Ich bin das älteste von 5 Kindern (davon 4 in genau 5 Jahren und dann nach 9 Jahren noch ein Nesthäkchen). Wir lebten mit Eltern und Großeltern im Haus der Großeltern auf einem mittleren Bauernhof. Spielen war für uns Kinder selten erlaubt. „Habt Ihr weiter nichts zu tun?“ Manchmal denke ich, dass Sklaven es besser hatten. Wir mussten schwere Holzwassereimer schleppen, die schon leer für uns Kinder zu schwer waren, aber das Vieh musste ja versorgt werden. Das Vieh war ja noch schlimmer dran als wir, denn es war im Stall angebunden und konnte sich nicht selbst versorgen und wurde außerdem noch geschlagen.
Meine Mutter hat bis zum Umfallen gearbeitet und alles klaglos hingenommen (weil sie emotional erpresst wurde, wie ich heute weiß). Mir wurde oft aufgetragen, mich um die Kleinen zu kümmern. Bei jeder Gelegenheit habe ich versucht, sie mit in Feld und Flur (denn da war es so friedlich) – weg vom Hof – mitzunehmen. Da war die Tracht Prügel für mich schon vorprogrammiert. Außerdem hat meine Großmutter den Kleinen gesagt, sie dürften nicht auf mich hören. Wenn die Eltern abends vom Feld kamen, gab es Schläge vom Vater und den enttäuschten Blick der Mutter, weil ich es wieder mal nicht geschafft hatte, auf die Kleinen aufzupassen. Ich kann heute nicht mal sagen, was schlimmer war. Dafür habe ich dann meine Geschwister gehasst, richtig abgrundtief gehasst, denn mich hatte ja keiner gefragt, ob ich die hatte haben wollen! Ich spüre noch heute meine innere Zerrissenheit. Und ich denke, meine Geschwister waren genauso zerrissen. Auf jeden Fall waren beide Brüder Bettnässer. Als meine Mutter mit ihnen deshalb zum Arzt wollte, hat Oma das verniedlicht, sie wären halt mal naß und kalt geworden, das gäbe sich. Von wegen… Meine Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass die Betten abends wieder trocken waren. Manchmal habe ich es vergessen… es war albtraummäßig, ich fühlte mich schuldig und war gleichzeitig wütend, und die Kleinen haben geweint. Wenn ich mich unbemerkt in die Ställe schleichen konnte, habe ich bei meiner Mutter mein Versäumnis gebeichtet. Dann ist sie gekommen und hat improvisiert. Die anderen Erwachsenen durften ja nichts merken, sonst hätte es wieder Schläge für mich und Hohn und Spott wegen des Bettnässens für meine Brüder gegeben.

Jahre später hatte ich ein anderes Erlebnis zu diesem Thema, dass mich bis heute nicht in Ruhe lässt. Manchmal glaube ich, es wäre das Einzigste, für das ich mich heute noch schäme und mich schuldig fühlen müsste: Mein Sohn (heute 24) war damals 4 Monate alt und wir machten zusammen mit mehreren jungen Familien Campingurlaub an der Ostsee, darunter eine Mutter mit einem 8jährigen Sohn, der jede Nacht in den Schlafsack nässte. Jeden Morgen wurde der Zeltplatz dadurch geweckt, dass Schläge auf einen nackten Kinderpo über den Platz schallten. Ich spüre noch jetzt einen fast körperlichen Schmerz, aber ich bin nicht eingeschritten, und auch sonst niemand der anderen 500 Camper. Dafür schäme ich mich so unendlich! 6 Jahre später habe ich es geschafft, zu handeln. Ich war als Betreuerin im Kinderferienlager, hatte eine Gruppe von 8-9jährigen Jungen. Am 2.Tag auf dem Weg zum Frühstücksraum sangen 11 Kinder im Chor: der D. hat ins Bett gepißt usw. usf. Eigentlich hatten die Eltern unterschrieben, dass ihr Kind kein Bettnässer ist, und wir hätten so ein Kind auch nach Hause schicken müssen. Zum Glück war unser Lagerleiter da anderer Meinung. Also habe ich geistesgegenwärtig unsere Sanitäterin zur Seite genommen und sie gebeten, D.´s Bett neu zu beziehen. Nach dem Frühstück wollten mir 11 kleine Jungen ein nasses Bett zeigen… Ich werde D.´s erst staunendes, dann strahlendes Gesicht nie vergessen. In den verbleibenden 3 Wochen hat er nur noch einmal eingenässt und ist sofort zu mir gekommen, damit wir den Schaden beheben konnten. Im Internet steht eine Menge zu dem Thema, aber nirgendwo der Hinweis auf Kindesmisshandlungen, aber der Zusammenhang ist doch wohl mehr als offensichtlich oder? Werte Frau Miller, ich bedauere zutiefst, dass mir Ihre Bücher erst so spät in die Hände gefallen sind oder war die Zeit jetzt erst reif?

Alles Gute für Sie und Ihr Team, E. H.

AM: Das Bettnässen ist ein Schrei um Hilfe eines unglücklichen Kindes, das um Verständnis für seine Lage bettelt. Das haben Sie offenbar schon als Kind verstanden. Aber die meisten Eltern können es nicht verstehen und erleben es als Aggression gegen sie. Natürlich, wenn sie die Not des Kindes verstehen könnten, bräuchte es gar nicht in der Sprache des Symptoms zu sprechen, es leidet ja selber darunter.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet