Brief an meine Mutter

Brief an meine Mutter
Sunday 11 January 2009

A., den 11.01.2009

Sehr geehrte Frau Miller,

Sie haben dankenswerterweise auf meinen Brief an Sie am 2. November vergangenen Jahres prompt (und das an einem Sonntag) geantwortet. Jetzt möchte ich Ihnen einmal herzlich für Ihre Unterstützung danken, Ihre direkte und indirekte Unterstützung. Sie sind ein helfender Zeuge meines inneren Kindes. Dafür, daß Sie mir/ihm die Augen öffnen konnten, dafür, daß die Stunden mit Ihren Büchern immer eine Insel des Verständnisses waren, kann ich nur DANKEN!

Ich bin 36, das erste Kind junger Eltern: einer harten, extrem verunsicherten Mutter und eines Alkoholikers, der selbst nie sorgloses Kind sein konnte. Besonders in Ihren Büchern „Drama“ (damit fing ich an) und „Du darfst nicht merken“ zog meine Kindheit an mir vorbei – Sie haben über mich geschrieben. Ich habe diese Bücher verschlungen, ich habe geheult, ich habe unwillig den Kopf geschüttelt, ich habe Verständnis gefunden. Sie beschreiben die Dressur, das extrem geforderte Kind, das nur aufgrund seiner besonderen Begabung den Schmerz und das Ungeheuerliche abspalten kann, um den wahnsinnigen Schmerz um seine Ungeliebtheit zu vermeiden. Es ist ungeheuerlich, ein ungeliebtes Kind zu sein. Es ist für mich heute noch notwendig, mir das zu soufflieren.

Meine Mutter hat mir immer den Eindruck vermittelt, um mich zu kämpfen. Ich wäre verstockt, ich würde mich grundlos ihren Berührungen verweigern, ich wäre komisch. So hat sie die Verantwortung galant auf mich schieben können. Und ich fühlte mich verantwortlich. Ich war verantwortlich für die Launen, Brüllereien, Schläge, Mißachtungen meiner perfekten Mutter. Das hatte ich alles zu vermeiden; aber es war nie genug. Heute weiß ich, ich hatte keine Chance. Extreme Wunscherfüllungen hatten nur immer weitere extreme Wünsche zur Folge, zum Beispiel: Am Tag der Zeugnisübergabe zum Abschluß der dritten Schulklasse (mit neun Jahren) bin ich in die Stadt gefahren (wie immer alleine, muß ich das erwähnen?) und habe für die Schulbücher der vierten Klasse Umschläge und auch Schnellhefter gekauft. Ich hätte dazu acht Wochen Ferienzeit gehabt, habe es aber besonders gut und eher machen wollen. Für die Schnellhefter hatte ich Lochverstärkungsringe gekauft, habe die Heftklammern der Hefter zuhause vorsichtigst aufgebogen, habe die vorhanden Löcher beklebt, habe alles wieder zurückgebogen und die Hefter beschriftet. Doch ich hatte die Hefter auf der falschen Seite beschriftet – das war mein Unglück. Die Mutter war außer sich. Ob es Schläge gab, weiß ich nicht mehr, aber es gab die niederträchtigsten Brüllereien. (Doch, es gab Ohrfeigen.) In meinem Zeugnis stand in der Beurteilung „G. ist ein intelligenter Schüler…“. Diesen Satz habe ich an diesem und den folgenden Tagen mit entrüsteter und brüllender Stimme wieder und wieder hören dürfen. Nein, ich war nicht intelligent; ich war es nicht wert, mit meiner Mutter unter einer Sonne leben zu dürfen, ich hatte ein unmögliches Verbrechen begangen. Tagelange Unansprechbarkeit meiner Mutter und das Versagen jeglichen positiven Kontaktes durch sie waren die Folge. Daß fast alle Zensuren auf dem Zeugnis Einsen waren, war nichts wert. Ich war nichts wert. Die Intelligenz abgesprochen. Ihrer Zuwendung nicht würdig. ICH HATTE KEINE CHANCE!

Ich hatte eine Ahnung, daß das Unrecht war. Ich war „verstockt“ – ein Vorwurf bis in meine Studienzeit hinein; das rettete vielleicht ein bißchen meines Selbsts. Ich entzog mich ihren Berührungen – die konnte ich nicht annehmen. Ich kann mich an keinen Kuß, an kein Streicheln erinnern, an nichts. Da war nichts. Aber auch das machte mich stolz – rettete vielleicht auch etwas meines Selbstbewußtseins. Ich kann mich an den Ekel erinnern, versuchte Sie mir nahezukommen. Das war gesund! Und jetzt? Die späten Umarmungen, die sich eher wie Fesseln anfühlen; die lockende und schmachtende Hilflosigkeit einer armen alleingelassenen Witwe, der die Dienstboten abhanden kommen (meine Schwester macht noch mit). Vor etwa einem halben Jahr hörte ich zum ersten Mal in meinem Leben von ihr: „Ich hab dich lieb“. Am Telefon. Am Ende eines Gespräches über ihre Sorgen und Nöte. Mein „Jaja“ klang schon nur noch unecht; verwundert nahm ich diese Wortgruppe zur Kenntnis, wie von ferne. Allein, es war zu spät. Der Bruch war schon da, in mir drin, beschlossene Sache. Aber eine Weile habe ich mich noch quälen lassen.

Erinnerungsfetzen überfallen mich in letzter Zeit: Eine Frau in der Mode der 70er Jahre prügelt auf ihr Kind ein. Es hat die Arme zum Schutz erhoben, es ruft, es weint, es nützt ihm nichts – die Mutter war eine präzise Schlägerin, sie traf, was sie wollte, routiniert und geübt. Der Kampf immer ungleich, der Verlierer stand immer fest. Aber ich konnte etwas aushalten, war auch darauf stolz.

Kann man sich an sein erstes Lebensjahr erinnern? Vielleicht: Ein Kind sitzt auf dem Töpfchen, sehr klein, kann gerade so sitzen. Eine junge Frau greift nach dem Ohr des Kindes, schlägt dabei wie zufällig mit dem Unterarm ins Gesicht des Jungen. Sie brüllt mir ins Ohr: „DRÜCK!“ Ich sehe den Jungen im verzweifelten Versuch, es seiner Mutter recht zu machen. Ich sehe seine nackten Beine, die dicklichen Beine, noch mit Babyspeck. Ich wunderte mich, daß mich dickliche Beine von sitzenden Leuten, z.B. auf Motorrädern, immer berührt haben, konnte das nie einordnen. Noch heute beeinflußt mich dieses „Drück!“ – Nach dem Wasserlassen entleert sich meine Harnröhre nicht aus eigener Muskelkraft, ich kann einfach nicht aufhören zu drücken, muß warten und warten. Urologische Behandlungsversuche halfen nicht, setzten nur Opferphantasien (?) einer Vergewaltigung frei.

Wo war mein Vater? Der Vater war meine Hoffnung. Ich hatte die präziseste Vorstellung, wie er uns Kinder – mich und meine fünf Jahre jüngere Schwester – nahm und sich auf sein Fahrrad mit uns setzte und mit uns einem besseren Leben entgegenfuhr. Was hatte ich mir die Scheidung meiner Eltern ausgemalt und herbeigesehnt. Sah mich vor dem Scheidungsrichter, werde gefragt, bei wem ich leben möchte, höre mich antworten… Sah die glücklichen Gesichter von uns dreien auf dem Fahrrad, sah die Bommelmützen auf den Köpfen von uns Kindern, sah Vaters Schiebermütze, unter der er seine Halbglatze verbergen konnte. Er hatte doch noch Chancen! Er sah doch gut aus. Er hatte doch zwei liebe Kinder! Fand sich denn keine? Ich wollte eine andere Mutter, um jeden Preis. Schon mit fünf Jahren. Diese Hexe, diese Schneekönigin (das Märchen meiner Kindheit!), die durfte uns doch nicht länger quälen! Und da war das Problem: Uns: Ich war auch verantwortlich für meinen Vater. Ich hatte meinen Vater zu beschützen. Ich habe das mit meinen Mitteln auch getan, habe die Mutter abgelenkt, wenn Vater es gewagt hatte, am Tisch zu niesen. Das war tatsächlich verboten!!! Unglaublich, dieser Irrsinn. Nieste er zweimal, brauchte seine Frau nur die Brauen zu heben und/oder die Mundwinkel zu senken, er sprang dann auf, rannte hinaus und nieste nicht die wertvolle Luft meiner Mutter weg. Und nun ich: ich lenkte die Mutter ab, sprach sie an, hustete selber, alles, damit mein Vater keinen Ärger bekam. Und er hatte Ärger… Aber ich war das Kind – er war doch der Vater! Das Verhältnis wurde verdreht, der große, starke Papa mußte von mir beschützt werden. Er gab immer nach, er war eine Null, ich lerne momentan schmerzhaft, diese Wahrheit auch zu sehen. Nie hat er meine Mutter abgehalten, mich zu verprügeln, mich psychisch zu mißhandeln. Nie. Nicht das ich es gemerkt hätte. Ein Schlappschwanz war er. Er verteidigte unsere tolle Mutter vor uns noch – sie hat nie ein gutes Haar an ihm gelassen. (Meine Wut diktiert gerade: Impotenter Pisser!) Erst nach seinem Tod im letzten Jahr spricht sie auch gut von ihm, für mich ist das immer sehr schräg und falsch.

Auch mein Vater bekam es fertig, mich zu schlagen. Seine Hand war schwerer als die der Mutter. Ich bekam sie selten zu spüren. Mit seiner Hand ist die letzte gute Erinnerung an meine Kindheit bei den Eltern verbunden: Ich bin fünf, wir sind im Urlaub an der Ostsee, ich gehe mit ihm Hand in Hand spazieren, zum Strand, an einem Schweinestall vorbei. Es stinkt. Die große Hand meines großen Beschützers umfaßt meine kleine Kinderhand, sie ist wie eingewickelt. Wir lachen, wir reden…alles schön. Das war’s! Vorbei. Dann kam nicht mehr viel echtes Schönes.

Der Vater war heimlicher Alkoholiker von Jugend an, erfahren habe ich es erst mit 24 Jahren. Ich war erschüttert – ja, ich hatte noch etwas, das zu erschüttern war.

Ich werde immer mehr gewahr, daß er mich nicht geschützt hat. Vor Monaten noch war er in meiner Erinnerung für mich wie ein lieber Bruder. Er hätte mich schützen sollen! Er war ein wissender Zeuge, hat er doch mit seiner ebenfalls früh verstorbenen alkoholkranken Mutter viel Leid gehabt. Er hätte mir helfen sollen! Ihn zu konfrontieren, wird mir immer wichtiger. Jetzt gibt es nur noch die Grabkonfrontation, eine gute Idee, wie ich glaube.

Es gab in meinem Leben eine Zäsur, die sich wie Nebelschwaden meinem Zugriff entzieht. Bei meinem nächsten Urlaub an der Ostsee bin ich sieben Jahre alt, bin in einem Kinderferienlager auf Usedom und bin für die anderen Kinder der „Schlüpfer-G.“. Ich habe für jeden der 14 Tage einen sauberen Schlüpfer dabei. Das ist mir wichtig. Warum? Ich ahne es nur. Diesen Spitznamen erzählte ich unter Trauer meiner Mutter und durfte ihn bis heute von meiner Familie als Scherz immer wieder hören, mit einem Lachen garniert. Lustig, nicht wahr?

Erinnerungsfetzen, ein böser Traum: Ich gehe als Erwachsener durch meine alte Heimatstadt, gehe zum Sportplatz, wo ich als Sechsjähriger Fußballtraining hatte. Ich laufe an einer Gartenkolonie vorbei, höre Schreie. Ein Junge schreit und weint. Ich renne. Springe über Hecken. Überwinde Zäune, trete eine Tür zu einer Laube ein. Ein Mann keucht und stöhnt. Er liegt mit einem Jungen auf einer Liege, reibt sich an ihm, Geifer tropft aus dem Maul. Ich sehe seinen Bart, sehe seine Mütze, er ist angezogen. Wieso hat er seine Mütze auf? Der Junge nackt. Ich ersteche den Mann mit meinem neuen Messer. In den Rücken. Der Junge liegt jetzt auf dem Fußboden. Ich lege mich auf ihn, habe meinen linken Unterarm an seiner Kehle, das Messer in meiner rechten Hand. Der Junge ist ein ängstlicher erschrockener Junge, sieht aus wie ich. Ich überlege: Soll ich ihn jetzt auch umbringen und ihm DAS ALLES ersparen? Ich tue es nicht. Aber mehr tue ich nicht für ihn.

Was für ein Traum! Noch heute treiben mir Sirenen von Feuerwehr und Polizei die Tränen in die Augen. Rettet mich denn keiner, scheint der kleine Junge bange zu fragen. Er schwieg. Aber er war nie hoffnungslos. Er wollte sich nie umbringen. Er konnte warten.

Jetzt bin ich erwachsen, bin selbst Mediziner, bin „erfolgreich“, habe selbst Familie, zwei Söhne. Mich holte mit der Geburt des ersten Sohnes die Vergangenheit mit mächtigen Schritten ein. Vor etwas mehr als zwei Jahren bin ich wegen meiner Depressionen zu einem Psychotherapeuten in Behandlung gegangen. Ahnungslos. Hatte aber wohl Glück. Ihre Bücher habe ich erst einige Monate später entdeckt. Seitdem versuche ich, meiner Psychoanalyse eine Richtung zu geben. Und ich habe es geschafft, mit meinem Therapeuten über meine Vorstellungen zu reden. Und was noch besser ist, wir können auch vieles gemeinsam tun und bearbeiten. Ich konfrontierte ihn mit Ihrer/meiner Frage nach dem bearbeiteten Verhältnis zu seinen Eltern. Das schien ihn zu überraschen, die Antwort war eher knapp. Aber die Richtung unserer Gespräche zeigt mir, daß ich wohl wirklich jemand einfühlsames gefunden habe. Er ist es nicht immer (menschlich, nur mir selbst habe ich diese Menschlichkeit nicht gegönnt) – ein dressiertes und wohlerzogenes Kind wie ich deutet jeden Gesichtsausdruck, achtet auf jedes Wort, jede Geste – die unerfüllten Wünsche des vernachlässigten Kindes sind schwer zu erfüllen. Ich weiß jetzt auch, daß ich Pädagogik und Beschuldigungen nicht mehr annehmen muß und würde; ich kann das auch zum Ausdruck bringen. Ich kann mir jetzt die Trauer erlauben, die ich als Kind nie zeigen durfte. Es fließen viele Tränen. Manchmal erlebe ich, daß mein Therapeut mir die Trauer nehmen oder verkürzen will. Ist er überfordert, macht ihm das Angst? Er meint, daß ich auch schöne Momente haben müsse, jeder Packesel bräuchte einmal eine Pause. Ich fühle mich dann in meinen Gefühlen beschnitten und Unwilligkeit steigt auf. Meditation sollte ich versuchen, habe aber nach schlechten Erfahrungen daran kein Interesse mehr. Für mich sind die „meditativen Völker“ Asiens nicht besser; das Verhältnis zu ihren Kindern ist auch nicht immer von echter Liebe geprägt. Meditation erzeugt für mich die Situation des gequälten Kindes: Die echten Gefühle ablegen, nicht wahrnehmen, in seinen Körper hineinhören, nur die körperlichen Funktionen wahrnehmen. Ich aber will leben, will fühlen, will meine Gefühle erleben und ausagieren. Ich erlebe meine Stärke, meine Macht, meinen Willen. Das ist wunderbar.

Mein jetziges Leben, meine jetzigen Erkenntnisse sind mir zu wertvoll, als daß ich jemals wieder dahinter zurück treten könnte. Sie haben mir wertvolle Hilfe geleistet! Ich kann nicht mehr zurück!

Und so konnte ich auch meiner Mutter schreiben, konnte mich endlich befreien. Den Brief habe ich erst eine Woche später abschicken können, zu viel Angst war noch im Spiel. Als er abgeschickt war, fühlte ich mich frei, so unsagbar frei. Ich hatte die Freiheit, mein Leben in die Hand zu nehmen. Es folgten weitere Tage in Angst vor der Strafe der ehemals übermächtigen Mutter. Aber nichts passierte mir, bis heute. Die einst so mächtige Schneekönigin hat ihren Schrecken verloren.

Es kam eine Reaktion, wie ich sie eigentlich hätte erwarten müssen: Ich rief meine Schwester an, die immer noch nah an meiner Mutter lebt. Sie freute sich über meinen Anruf, war bestens informiert. Die Mutter hatte ihr den Brief zu lesen gegeben unter dem Motto „Kuck mal, was ich hier habe…“ Sofort hatte ich die unangenehme Vorstellung, wie diese beiden Frauen über mich beratschlagt und getratscht hätten. Das eigentlich gute Verhältnis zu meiner Schwester wäre für mich ein sehr großes Opfer meiner Befreiung gewesen, ich kann mir ihre Abwehr gut vorstellen, wir hatten dieselbe Mutter! Aber: Meine Schwester riet meiner Mutter dazu, keinen Kontakt mit mir zu suchen, hatte jedoch Angst, daß ich ihr einen ähnlichen ablehnenden Brief schreiben würde. Da spürte ich für einen Moment, wie meine Schwester noch immer in Schuld und Opferbereitschaft gefangen ist. Sie hat explizit die Stelle im Brief erwähnt, wo ich nach möglicher Gewalt der Mutter gegen die Kinder meiner Schwester fragte – das hätte sie stocken lassen. Jetzt fühlt sie sich wie zwischen zwei Stühlen (Auch sie hatte immer den Vater verteidigt, mit mehr Mut und Wut als ich, spielt heute ihre gewohnte Rolle als Mittlerin aber weiter). Ich habe versucht, ihr zu sagen, daß diese zwei Stühle nicht existieren, ich habe meinen Stuhl in mein neues Leben mitgenommen.

Hier ist noch einmal mein Brief an meine Mutter, kleine Änderungen an Namen von Personen und Orten habe ich vorgenommen. Sie können meine Zuschrift samt Brief gerne wo auch immer veröffentlichen, jetzt kann es jeder erfahren und hoffentlich davon profitieren.

Vielen Dank und herzliche Grüße

A., den 9. November 2008

Dein letzter Brief hat mich getroffen. Und er hat mich dazu gebracht, vieles zusammenzusuchen, was mir schon seit langem in der Seele brennt. Vielleicht schaffst du es, meinen Brief bis zum Schluß zu lesen – vielleicht tust du es aber nicht, nach dem Motto „Das habe ich nicht nötig“. Ich habe ihn auch für mich geschrieben. In deinem Brief ging es um dich. Jetzt geht es um mich.

Du beklagst dich über ein paar fehlende persönliche Worte von mir an dich. Du erwartest Mitgefühl und Hilfe. Du zweifelst an meinem Verhältnis zu meinem Vater. Deine Situation ist exakt die Situation, in der ich als Kind steckte. Ein Abziehbild meiner traurigen Kindheit.

Wieviel warme Worte hattest du für mich, wo war dein Mitgefühl? Bei dir hatte ich Bedingungen zu erfüllen, Leistungen zu erbringen, gut zu funktionieren. War das Funktionieren gestört, gab es Entzug an Zuwendung; gab es den typischen versteinerten Blick, über Tage oft. Schweigen, Verweigern von Hilfe. Vorwürfe, Herabsetzungen, Schläge. Ja, ich konnte da auch gut mithalten, dir wollte ich meine seelischen und körperlichen Schmerzen nicht zeigen; wir hatten unsere Wettbewerbe im verbissenen Schweigen. Nur, ich war das Kind, wen habe ich sonst gehabt für meine Sicherheit; du warst die Erwachsene, du hattest andere und anderes. Deine Bedingungen hatte ich zu erfüllen, machte sie zu meinen. Habe alle Anforderungen versucht überzuerfüllen. Dir wollte ich es zeigen. War selbständig, war leistungsbereit, gab nie auf, konnte mich gut alleine beschäftigen – schon mit zwei Jahren…War alleine; wo warst du? Wo warst du in meiner Schulzeit morgens beim Aufstehen? Hattest du Frühstück gemacht? Nein, der Vater hat mir die Stullen für die Schule gemacht. Hattest du Wäsche hingelegt? Vielleicht, aber ich erinnere mich nicht daran, aber an Nachfragen aus der Schule, warum ich in Sportzeug oder Trainingsjacke aufgekreuzt bin. Hast du das erfahren, oder habe ich dich davor geschützt? Ausgelacht habt ihr mich, tut es noch heute, weil ich mit sechs Jahren oder früher so sehr auf saubere Wäsche, besonders die Unterwäsche bedacht war. Warum war ich das, warum mußte die Unterwäsche täglich neu sein, was gab es da zu befürchten und zu verdecken – du könntest es wissen, wenn du gewollt hättest. Habe ich mich auf dich gefreut, wenn sich halb vier der Schlüssel im Schloß herumdrehte, du nach Hause kamst? Nein, aber die Angst war da, was hab ich wohl heute falsch gemacht, gibt es Schläge? Vor dir habe ich Angst gehabt… du hast mich oft genug lautlos weinend angetroffen, hattest du das bemerkt? Hast du das Abendbrot gemacht? Nein, das war wieder der Vater; ohne den wäre ich wohl verhungert. Hast du dich für meine Hausaufgaben interessiert, für meine gepackte oder nicht gepackte Schultasche? Nein, niemals, das hat niemanden interessiert. Gute Zensuren hat er doch gebracht, der Junge, muß doch wohl alles funktionieren… Haben wir abends miteinander sprechen können? Nein, da saßen zwei versteinerte Erwachsene am Wohnzimmertisch, einer stierte in den Fernseher, die andere strickte. Gespräche? Eher Belauerungen aus Schützengräben. Gereizte Atmosphäre. Wenn gesprochen wurde, waren es deine herabsetzenden und beißenden Kommentare für meinen Vater und seine rechtfertigenden Antworten. Mußte er auch von dir erzogen werden? Du hast ihn mir madig gemacht; ihn als unfähigen Verlierertypen, der nichts zustande bringt, dargestellt. Eine Partnerschaft zwischen zweien, die sich lieben oder zumindest achten, war für mich nicht erkennbar. Nun bist du die trauernde Witwe. Welchem Eindruck darf ich vertrauen? Hast du mich ins Bett gebracht, etwas vorgelesen, meine Sorgen angehört, gefragt, wie es mir geht? Nein, Gute Nacht gewünscht per Handschlag, ab ins Bett. Wußtest du, was mich bewegt, vor wem oder was ich Angst hatte, ob es mir gut ging? Das konntest du nicht wissen. Ich weiß, das ging dann auch gar nicht mehr, ich habe mich dir verweigert.

Und jetzt forderst du meine Zuneigung ein? Das kann nicht mehr funktionieren. Ich funktioniere nicht mehr für dich. Ich muß mich kennenlernen, meine Bedürfnisse. Deine Dressur verfängt nun nicht mehr. Ein Blick von dir hatte immer genügt und ich wußte, was ich für dich zu tun hatte; habe es regelmäßig überboten, überbieten müssen, um vor mir meine Würde zu bewahren. Meine Würde, die du mir nicht gelassen hast: Gab es nicht an allem und jedem bißchen etwas auszusetzen, gab es nicht Schläge zu meiner Umformung in ein dir genehmes Kind? Ich muß das falsche Kind gewesen sein. Habe ich mich doch einmal wie ein Kind benommen, wurde mir das äußerst übel genommen, wird mir gar bis heute nachgetragen. Denke an das fünfjährige Kind, daß seinen Kindergartenweg von geschätzten 45 Minuten (ja, ich bin ihn noch einmal abgelaufen, wieder und wieder) einmal (!) verlassen hatte, um auf einem Spielplatz zu schaukeln, dabei unkindlich penibel seine Brille an die Seite gelegt und doch kindlich vergessen hatte. Das bekomme ich heute noch als heitere Anekdote serviert. Wie verletzend! Das muß vorbei sein! Ich war ein problemloses Kind – was für ein Hohn, was für eine erneute, fortgesetzte Demütigung; die Fortsetzung der damaligen Lebenslüge. Du steckst noch mittendrin, ich bin raus!

Glaubst du, ich hätte nie nachts wach gelegen, mit Ängsten, glaubst du das heute noch? Bei Vaters Beerdigung habe ich es wieder hören dürfen: Mit euch hatten wir keine Probleme, ihr seid niemals in unser Bett gekommen. Was für eine Aussage, was hätte ich denn zu erwarten gehabt in deinem Bett? Trost? Zuwendung? Vorwürfe? Zurechtweisungen? Anderes? Was?

Wer hat mich in den Schlaf gewiegt, das war doch ich selbst. Bimbi habt ihr das genannt und euch auch noch darüber lustig gemacht. Du weißt, wann ich damit begonnen habe, falsch – wann es anderen im Kindergarten (nicht dir!) aufgefallen ist. Ich erinnere mich an den bewußten Zwang, es tun zu müssen, auf diesen harten Sperrholzliegen. Bewußt, ohne Rücksicht auf die aufgeschreckten anderen Kinder und die Erzieherinnen nehmen zu können. Weißt du, was ich D. erzählt hatte, um zu erklären, was im Bett über ihr geschieht – ich mußte es tun, das konnte ich nicht einfach lassen. Weißt du, wie lange ich das gemacht habe, wie alt ich war? Ich sage es dir nicht, auf deinen Spott und die Mißachtung habe ich keine Lust mehr. Erkundige dich doch einmal, unter welchen Umständen Kinder Jaktationen haben, du könntest etwas über mich erfahren. Und über dich.

Wußtest du von meiner Angst, in die Schule zu gehen, wußtest du, wer mich jahrelang direkt und unmittelbar körperlich bedrohte, jeden Tag, jeden verdammten Tag? Warum war ich wochenlang krank, mit unklaren Bauchschmerzen, keiner fand etwas, alle sahen nur auf meinen Bauch? Halfen die Kamille-Rollkuren gegen die Ängste? Nein, das taten sie nicht. Das Leben in Angst durfte danach weiter gelebt werden. Warum hätte ich dir davon erzählen sollen? Was hättest du mir gegeben – Geborgenheit, Sicherheit?

Jeden Tag darf ich auf meine Finger sehen, die Finger der rechten Hand, alle waren sie gebrochen im Gelenk, in der Datsche von Onkel und Tante. Jeden Tag habe ich Schmerzen, jeden Tag, nach der Arbeit, bei kaltem Wetter… Rührt dich das? Hat dich das damals gerührt? Warum wart ihr nicht gleich mit mir beim Arzt? Weil ich selbst Schuld hatte an meinem Unfall, weil ich die Bodentreppe falsch herum herunterlaufen wollte? Hatte ich es nicht verdient, daß man sich um mich kümmert? Lag das wirklich an Onkel und Tante – wer waren meine Eltern? Natürlich habe ich meinen Schmerz verbissen, was hätte ich denn zu erwarten gehabt? Und ich soll mich jetzt mit deinen Krankheiten abgeben?! Warum? Warum sollte ich das tun? Warum sollte ich mich um dich kümmern? Ich habe dich ja bis zuletzt geschützt, hatte ich doch glatt vergessen, vergessen müssen, daß ihr beiden Eltern ja dabei wart und nicht nur Onkel und Tante. Wie gruselig, wie grausam. Womit hatte ich das verdient?

Weißt du, wie lange ich als Kind meine Würmer hatte, bevor ich es euch mit zwölf Jahren sagen konnte? Weißt du, wieviele Jahre? Fast jeden Tag Blut in der Toilette zu sehen, war für mich nicht leicht; schlimmer ist es, das Gefühl zu haben, da passiert etwas so schlimmes und ich kann es niemandem sagen. Wieviele Jahre? Schließt sich hier der Kreis zur sauberen Unterwäsche? Jetzt mußt du es auch nicht mehr erfahren. Warum mußte ich das Gefühl haben, daß es nicht lohnt, es euch zu sagen? Als mein Sohn letztens vom Klettergerüst fiel, warum fiel es mir unerklärlicherweise unglaublich schwer, mit ihm zum Arzt zu gehen? Tausend Ausreden: jeder fällt mal, so schlimm ist es nicht, tut ihm doch gar nicht weh, wird schon wieder, die paar blauen Flecken – wo habe ich das her? Die wühlenden Gedanken, daß der Arzt mich für einen halten könnte, der sein Kind mißhandelt hat – wo habe ich das her? Ich bin stolz auf mich, meine Kinder nicht zu schlagen, ich könnte es gar nicht – wo kommen also meine Gedanken her?

Ihr und besonders du habt mich mit Schlägen geformt, das bleibt unvergessen. Hast du mich geschlagen, um einen besseren Menschen aus mir zu machen? Einen anderen Menschen? War ich nicht der richtige, habe ich deine Wünsche nicht immer erfüllt, war ich nicht immer ein problemloses Kind? Meine Angst vor deinen Schlägen war immer da, deine Schläge mußte ich mir nicht besonders verdienen. Deine langen Arme (für ein Kind sind Erwachsenenarme sehr lang…) mit den knochigen Händen und den beringten Fingern landeten oft in meinem Gesicht. In bester Absicht? Um mich zu einem besseren Menschen zu erziehen? Wie abstrus. Schlägst du Erwachsene? Warum schlägst du Kinder? Schlägst du D.s Kinder? Würdest du meine Kinder schlagen wollen? Bei uns war das doch für dich kein Problem, ist das immer noch so? Du hast mich blutig geschlagen, ich erinnere mich sehr deutlich an Schmerzen in Gesicht und Seele und eine blutende Nase im Badezimmer. Das ganze Waschbecken voller Blut… bis zum Seifenhalter und selbst bis zu Spiegel hat es gespritzt. War das richtig? Hatte ich mir das selbst zuzuschreiben? Warst du danach zufrieden? Ich habe sogar Spritzer vom Fußboden gewischt. Wieso eigentlich ich? Bei Erwachsenen nennt man das Körperverletzung oder Folter, da kommt man vor Gericht; Kinder scheinen es jedoch nötig zu haben. Eine Zeit lang hatte ich nach der blutenden Nase die Hoffnung, daß du siehst, daß das zu weit geht. Vergebens, es gab auch später noch Schläge.

Ich kann niemanden schlagen, den ich liebe; ich liebe meine Kinder, egal, wie sie sind, egal, wie sie sich aufführen. Sie wissen das, sie kommen zu mir, sie können kommen. Ich versuche, ohne zynische Kommentare, ohne Herabwürdigungen, ohne Liebesentzug zu reagieren. Es gibt Verständnis, Vertrauen, Trost, natürlich manchmal erst nach einem Durchatmen. Aber oft, wenn Situationen da sind, in denen meine Kinder Krach machen, toben, schreien, widersprechen, brennen mir die Wangen – sie sind tatsächlich feuerrot – komme ich mir bestraft vor, habe ich das Gefühl, Schläge zu kassieren. Nein, so etwas habe ich nicht gemacht. Habe ich wirklich nicht, oder hast du es mir ausgetrieben? Warum brennen mir die Wangen? Warum bekomme ich Nasenbluten, das Symptom meiner Kindheit, wenn ein Anruf bei dir bevorsteht? Warum fürchte ich mich vor deiner Umarmung (der schlagenden langen Arme meiner Kindheit), die ich bei unseren Besuchen als Erwachsener nun zu ertragen habe?

Jahrelang habe ich nachts mit Haß und Wut im Bett gelegen, wen hätte ich um Trost und Beistand bitten können? Dich? Was hätte ich zu erwarten gehabt? Für dich war ich problemlos. Vielleicht ein bißchen unnahbar, aber das war ja nicht deine Schuld; du hast ja immer alles für mich getan… Hast du? Warum war mir schon als Kind deine körperliche Nähe zuwider? Was hat mir dein Körper gegeben? Schutz? Hätte ich dir vertrauen sollen? Ich durfte ja sogar sehen, wie du D. geschlagen hast. In einem Alter, wo es mir graust; wo ich nicht weiß, was mir da passiert ist… Du hast D. im Kinderzimmer gefüttert (na, wie alt ist man da?); ich hörte das übliche Geschimpfe, kroch auf allen vieren aus dem Wohnzimmer in den Flur und sehe, wie meine Schwester Ohrfeigen empfängt, die sie sich anscheinend verdient hatte durch Weinerlichkeit beim Essen oder ähnlichem. Kann man das verteidigen? Warum ist meine Schwester so dünn, so traurig, so sensibel an der Haut? Ich habe auch Schläge gekriegt, „damit du weißt, warum du so komisch gelaunt bist“. Rumms. Ah – endlich Stille. Wer war da wohl „komisch gelaunt“, mußte sich am Kind abreagieren? Ja und wenn, warum war ich „komisch gelaunt“, hätte man das mal erfragen können? Hauen ist einfacher und so praktisch, du hattest dann Ruhe, ich wurde wieder problemlos. Hat dich meine Traurigkeit nie interessiert? Was war dir wichtiger?

Waren die Schläge, die Brüllereien, die dummen und mitleidslosen Fragen, der kalte Blick gut für mich? Sind denn nicht alle Kinder geschlagen worden und doch oder sogar gerade deshalb „etwas geworden“? Bin ich nicht erfolgreich geworden, durch dich und deine Erziehung zur Härte? Aber wessen Leben habe ich geführt? Wessen Wünsche habe ich erfüllt, übererfüllt? Wer hat mir zugehört, wer hat mich in den Arm genommen? Durfte ich traurig und wütend sein, oder gab es nicht doch Schläge fürs „Komischsein“; warum komme ich heute erst dazu, Schmerzen wahrzunehmen, Hilfe anzunehmen, Liebe zuzulassen? Keine Angst, ich werde dich in diesem Leben nicht mehr mit weiteren Einzelheiten meiner Seele langweilen. Wichtig ist mir jetzt, daß ich endlich wahrnehmen darf, was damals passiert ist. Das lasse ich mir nicht mehr nehmen. Du kannst mich nicht mehr töten. Ja, das Töten muß die Steigerung der Schläge aus Nichtigkeiten sein, so befürchtete es der kleine G. – was will sie denn mit mir machen, wenn ich wirklich mal etwas Schlimmes anstelle – mich umbringen? Konnte ich dich lieben? Mußte ich dich nicht fürchten? Mußte ich nicht alles angepaßt so machen, daß ich nur nicht anecke bei dir… aus Angst vor den Konsequenzen? So habe ich mich selbst umgebracht, habe wieder und wieder davon geträumt, wie ich tot im offenen Sarg liege, habe meine eigene Beerdigung gesehen; wollte endlich etwas Mitgefühl sehen, wollte sehen, ob ihr um mich weinen würdet. In meinen Träumen habt ihr es nicht getan.

Als meine Kinder zur Welt kamen, dachte ich, daß euer Interesse an uns in A. vielleicht steigen würde. Na, das war wohl falsch gedacht; aber warum sollte denn plötzlich sich etwas ändern, woher sollte das Interesse denn kommen. Dreimal wart ihr hier in zwölf Jahren… Zur Taufe nicht, zu den Kindergeburtstagen nicht, mal eben so erst recht nicht. Erst hat es mich wahnsinnig geärgert – jetzt möchte ich dich hier sowieso nicht mehr haben. H.s Eltern sind fünf-, sechsmal im Jahr und öfter hier. Sie sind gerne bei uns und ihren Enkeln. Und wir gerne bei Ihnen. Weißt du, wie Z. und G. dich nennen? Du bist „B.s Oma“, denke darüber nach.

Nach diesem Brief werden wir uns nicht mehr einfach treffen oder unterhalten können, wahrscheinlich nie wieder. Ich habe kein Bedürfnis auf Verleugnungen und Verhöhnungen mehr. Ich kann auch meine Kinder nicht mehr zu dir bringen, das hält das kleine Kind in mir nicht mehr aus. Du mußt mit deiner Lieblosigkeit und Feindseeligkeit schon selbst klarkommen. Ich stehe für die Erfüllung deiner Wünsche nicht mehr zur Verfügung. Deine Dressur ist vorbei. Meine Kinder dressierst du nicht. An dich habe ich keine Wünsche mehr.

AM: Ich bin froh, dass Sie sich entschlossen haben, Ihren erschütternden Brief vom 2.12.08 für die Veröffentlichung freizugeben. Er wird nicht nur andere ermutigten, die Augen zu öffnen und ihre Rechte wahrzunehmen, sondern wird Ihnen auch zweifellos viele empathische Zeugen bringen, denn man müsste aus Holz sein, um nicht über Ihr Leiden entsetzt zu sein. Ihre Klarheit und Eindeutigkeit sind bewundernswert, ich gratuliere Ihnen dazu.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet