Du sollst nicht merken

Du sollst nicht merken
Saturday 15 December 2007

Liebe Alice Miller,

ich wende mich an Sie, weil ich gegenwärtig verzweifelt bin. Bitte behandeln Sie diese eMail vertraulich, d.h. veröffentlichen Sie sie auf Ihrer Homepage nur unter meinen Initialen.

Lange habe ich überlegt, ob ich Ihnen schreiben soll oder nicht, aber es erscheint notwendig – angesichts der unlösbaren Konflikte, denen ich mich im Augenblick ausgesetzt fühle.

In den vergangenen drei Monaten habe ich mich in einer Tagesklinik für Psychiatrie in Deutschland aufgehalten, in welcher mir eine sog. Bezugsperson zugeteilt wurde, deren Verhalten einerseits sowie ihre Deutungen meiner Erzählungen andererseits mir geschadet haben.
Das Auftreten dieses Mannes war autoritär, schwarzpädagogisch, intolerant, tumb, plump, von Widersprüchen geprägt.
Die Begründung für dieses Verhalten erfuhr ich am vergangenen Dienstag: Andernfalls hätte ich den gesamten Ablauf der Therapien „torpediert“, was ich allerdings, in den Augen der Bezugsperson, freilich ohnehin getan hätte. Es handelte sich hierbei um einen Krankenpfleger für Psychiatrie, der mir offenbar aus dem Grunde zugeteilt worden war, weil ich als „schwierig“ eingestuft worden war und man befürchtete, dass, wenn man mir nicht eine Bezugsperson vorsetzen würde, die mich alleine durch ihre untersetzte Erscheinung in Angst versetzen würde, möglicherweise zu viele unbequeme Fragen stellen würde. Selbiger (also der Krankenpfleger) konzedierte zwar, dass ich aus meiner Kindheit eine ziemliche „Hypothek“ besäße, jedoch mich meine Eltern „nicht nur nachteilig“ beeinflusst hätten, z.B. in den Kindergarten geschickt hätten. Außerdem verwendete er gebetsmühlenhaft Formulierungen à la „Sie haben ihre Eltern als negativ erlebt“ oder „erfahren“. Dies klingt in meinen Ohren gerade so, als zweifle man an, dass meine Eltern tatsächlich so gewesen seien.
Ich habe mich vor allem gefragt, weswegen es denn so wichtig sei, dass ich einsähe, dass sie mich „nicht nur nachteilig“ beeinflusst hätten. Hintergrund scheint zu sein, dass die Psychoanalyse bei der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung (die man mir unter anderem diagnostiziert hatte) von den Thesen Otto F. Kernbergs auszugehen scheint, wonach eine Spaltung in „Gut“ und „Böse“ durch die Tatsache verursacht sei, dass die Eltern zwar eine traumatisierenden Einfluß gehabt hätten, aber dennoch als „Beschützer“ aufgetreten seien.
Diese Theorie will mir nicht so ganz einleuchten. Ganz unabhängig davon, ob ich nun tatsächlich an der o.g. Störung leide oder nicht, ist sie sicher nicht der Tatsache geschuldet, dass meine Eltern auch ihr Gutes gehabt hätten. Emotionale Erpressung, körperliche Misshandlung, seelischer Missbrauch, Schuldzuweisungen, Vernachlässigung, Abwesenheit von Empathie und Toleranz sind die Empfindungen, die ich meinen Eltern entgegenbringe.
Warum also wurde ich diesem schwarzpädagogischen Setting und diesem völlig unverständigen Pfleger (für therapeutische Einzelgespräche) ausgesetzt?
Weil ich bei der Aufnahme den Namen „Alice Miller“ erwähnt hatte?

Ihre Worte aus dem „Drama des begabten Kindes“ haben mich ungeheuer berührt (ich beziehe mich auf die 1980er Ausgabe). Sinngemäß heißt es dort an einer Stelle: „Das Drama des begabten Kindes besteht darin, dass es die Bedürfnisse der Eltern sehr rasch erkennt und sich diesen anpasst und zu einer Entwicklung eines eigenen Selbst nicht (mehr) fähig ist“.

Der Pfleger entsprach hinsichtlich seiner Persönlichkeit eher dem Titel ihres Buches „Du sollst nicht merken“.Folgerichtig verlangte ich nach einer anderen Bezugsperson, welche mir jedoch verweigert wurde. So blieb mir nichts weiter übrig, als die Tagespsychiatrie zu verlassen, welches ich sehr bedauert habe, weil ich gerne mit den Patienten zusammen war, und mich insbesondere mit jenen verstand, die Ihre Bücher gelesen hatten.

Aber das schwarzpädagogische Setting hat seine Spuren hinterlassen. Ich habe Angst, weil ich mich nun -ob wissenschaftlich oder pseudo-wissenschaftlich oder nur durch die Worte des Pflegers fundiert- genötigt sehe, irgendwelche positiven Seiten in meinen Eltern zu erblicken, weil ich ja sonst als Borderliner dastünde. Ich empfinde aber nun einmal nicht so. Der Geist des Handelns meiner Eltern ist der des Verbrechens gegen mich, und das auch wider besseres Wissen.
Ich spüre, wie mein Körper dagegen revoltiert, aber ich schaffe es alleine nicht.

Auch heute scheint es immer noch normal zu sein, schwere Kränkungen in der Kindheit nicht wirklich ernst zu nehmen und dem Patienten die Schuld anzulasten. Ich trage aber keine Schuld. Meine Eltern haben nie eine Einsicht hinsichtlich ihrer „ungünstigen“ Beeinflussung gezeigt. Weshalb versucht man nun, den Eindruck zu erwecken, ich sei ihnen etwas schuldig geblieben, weil sie ja auch „ihr Gutes hatten“.

Mit Dank vorab für ihre Antwort. C. S.

AM: Alles, was Sie schreiben, scheint mir absolut logisch, ich teile vollkommen Ihre Meinung über dieses kranke, verrückte und ignorante System, das man Menschen anbietet, die in Not sind. Ich kann Ihnen nur gratulieren, dass Sie Ihren Gefühlen gefolgt sind und nicht mehr von diesem System Hilfe erwarten. An die guten Seiten der Eltern haben wir uns doch die ganze Kindheit lang geklammert, um zu überleben. Das hat uns aber blind gemacht und unfähig, den Missbrauch zu erkennen. Diese Blindheit offenbaren uns unter anderem die Theorien der Psychoanalyse, die auf der Verleugnung der Kindesmisshandlungen aufgebaut sind und auf der Angst des kleinen Kindes vor den Schlägen und anderen Strafen, wenn man es wagt, die Wahrheit zu sehen und auszusprechen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet