„Ich habe sie mit der Vergangenheit konfrontiert“

„Ich habe sie mit der Vergangenheit konfrontiert“
Tuesday 19 February 2008

Sehr geehrte Frau Miller,
ich schrieb Ihnen bereits im Oktober und im November 2007 unter dem Titel „soll ich sie mit der Vergangenheit konfrontieren?“. Sie haben mir geantwortet mit dem Satz: „Haben Sie mit Ihrer Pflegemutter schließlich gesprochen? oder haben Sie immer noch Angst davor?“. Dieser eine Satz rumorte gewaltig in mir, so daß ich mir endlich ein Herz faßte und endlich mit ihr gesprochen habe. Es ging ja darum, daß ihr Mann, also mein Pflegevater versucht hatte, meine Brust zu berühren, als ich ca. 14 Jahre alt war. Er schaute auch immer so begehrlich auf meinen Körper. Für mich war das alles furchtbar, da mein Stiefvater mich mit ca. 11 Jahren oral mißbrauchte und ich seitdem immer Angst davor hatte, so etwas könnte nochmal passieren.
Als ich ihr das sagte, war ihr Gesicht sehr bleich und ich sah, wie Ihre Gesichtszüge für einen kurzen Moment entglitten. Leider hatte sie sich schnell wieder in der Gewalt und sagte, daß ihr das zwar alles sehr leid täte, was er mir angetan habe, doch sei dies wohl „nur“ passiert weil er „etwas getrunken“ hatte. Ich war zu perplex, um etwas zu sagen, denn damit hatte ich nicht gerechnet, daß sie ihn auf diese Art und Weise in Schutz nimmt. Am nächsten Tag sprach sie sogar über ihn, vor mir, so als ob sie nicht verstehen würde, daß der Name meines Pflegevaters für mich in anderen Zusammenhängen nicht mehr hörenswert war! Sie hat sich überhaupt nicht mit der Tragweite meiner Mitteilung auseinandergesetzt, zumindest nicht für mich offensichtlich. Ich war zumindest so gut zu mir, daß ich bei meinem Bruder geschlafen habe (sonst schlafe ich immer in Ihrem Haus, da ich ja 500 Kilometer weiter weg wohne).
Ich überlege, ob ich ihr einen Brief schreiben soll, indem ich Ihre Scheinwelt anprangere, denn das hat mir auch immer sehr weh getan; die Fassade war immer so verdammt perfekt! Der Garten, wunderschön gepflegt, es wurde nie laut gestritten, was sollten denn die Nachbarn denken? man beteiligte sich auch immer an den Vereinsaktivitäten, sie war sogar Vereinsvorsitzende in der Frauengruppe und alle sagten immer:“ ach was ist die Biene fleißig!“. Das schlimmste war für mich immer, daß ich diese Familie gar nicht richtig mochte, doch immer geheuchelt habe, um ja meine „Existenzberechtigung“ nicht zu verlieren! Dies hat mich Zeit meines Lebens immer traurig gemacht, diese Anpassung, der Verlust meiner Seele und obendrein hat sie überall hinausgeschrien, wie toll sie doch sei, ein Pflegekind aufzunehmen, ich müßte ja so dankbar sein. Dankbarkeit ist seitdem ein sehr bitteres Wort für mich!
Ich weiß es noch nicht, wenn ich es tue, tue ich es für mich, um endlich das Image des lieben Kindes loszuwerden und meine Wahrheit mitteile, damit das Verhältnis endlich wahrhaft ist und nicht immer geheuchelt! denn ich konnte nie ich Selbst sein, vielleicht verliere ich sie als Familie und gewinne mich selbst dabei??
Ein herzlicher Gruß, M. B.

AM: Ja, genauso ist es! Sie schreiben: „wenn ich es tue, tue ich es für mich, um endlich das Image des lieben Kindes loszuwerden und meine Wahrheit mitteile, damit das Verhältnis endlich wahrhaft ist und nicht immer geheuchelt! denn ich konnte nie ich Selbst sein, vielleicht verliere ich sie als Familie und gewinne mich selbst dabei??“
Damit haben Sie alle Fragen Ihres Briefes selber beantwortet. Bravo! Es lohnt sich jedes Wagnis, um sich selber näher zu kommen. Die Befreiung vom Druck der Lügen ist die Belohnung.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet