Vergebung manipuliert die Gefühle

Vergebung manipuliert die Gefühle
Saturday 21 January 2006

Aus der französischen Leserpost:
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Wie ist der Begriff Vergebung oder die Handlung des Vergebens zu definieren?

Guten Tag,

… Ich habe eine Frage: An mehreren Stellen in den Schriften Alice Millers gibt es einen Rückgriff auf das Wort „Vergebung“ mit einer negativen Bedeutung, was ich verstehe, aber der Begriff ist mir nicht ganz klar.

Welche Bedeutung gibt sie diesem Wort:

* das Auslöschen der Vergangenheit
* die Vergangenheit zu erkennen und einfach seinen Hass und/oder seine Wut aufzugeben
* darüber hinaus zur Liebe zurück zu kehren (real oder mutmaßlich)
* eine andere Bedeutung?

Gibt es nicht eine Art und Weise des Vergebens, die positiv für den Betreffenden sein könnte (ich denke an die zweite Bedeutung, die erlaubt, wenn der Patient es wünscht, das Blatt zu wenden und die Brücken abzubrechen, anstatt an den Hass gebunden zu bleiben)?

Danke

F

AM: Ihre Frage ist sehr wichtig, sie beinhaltet jedoch die naive Voraussetzung, dass wir unsere Gefühle manipulieren können, ohne andere den Preis dafür zahlen zu lassen. In Wirklichkeit können wir das nicht. Sie sagen hier, was alle sagen, was wir alle von unseren Eltern, in der Schule, der Kirche und sogar in den meisten Therapien gelernt haben: Man muss „das Blatt wenden“. Zweifellos ist schön, was man uns vorschlägt: dem Hass zu sagen, er möge verschwinden und niemals wieder auftauchen. Wir wollen das Blatt wenden und in Frieden leben. Jeder möchte das, und es wäre sehr schön, wenn das so funktionierte. Aber leider funktioniert es so nicht. Überhaupt nicht. Warum? Weil die Wut, wie alle anderen Emotionen, sich nichts diktieren und sich nicht manipulieren lässt, SIE diktiert uns etwas, sie zwingt uns, sie zu empfinden und ihre Ursachen zu verstehen. Sie kann jedes Mal wiederkehren, wen man uns verletzt hat, und wir können das nicht verhindern. Denn unser Körper kann nicht „das Blatt wenden“ und er fordert von uns, ihm zuzuhören.

Wir können jedoch unsere Wut mit allen Folgen unterdrücken: Krankheiten, Sucht, Verbrechen. Wenn wir unsere berechtigte Wut nicht spüren wollen, weil wir den Eltern selbst die schlimmsten Misshandlungen bereits vergeben haben, werden wir zu unserer Überraschung bald feststellen, dass wir unseren Kindern oder Anderen dieselben Schmerzen weiter gaben, die wir von unseren Eltern erdulden mussten. Wenn wir ehrlich sind, werden wir nicht behaupten „zu ihrem Besten“ gehandelt zu haben ( etwa, dass Schläge „gut für die Erziehung“ seien). Leider sagen dies die meisten Eltern, deshalb ist unsere Gesellschaft auch so verlogen.

Auf der Seite „Artikel“ finden Sie meinen Text über den Hass, der Ihnen helfen müsste, besser zu verstehen, was ich hier zu erklären versuchte. Auch das Buch „Die Revolte des Körpers“ kann Ihnen helfen, mehr zu verstehen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet