Lieben ohne Zorn

Lieben ohne Zorn
Saturday 30 May 2009

Liebe Frau Miller,

Nun ist es doch vorbei. Ihre gute Wut hat meiner guten Wut geholfen.

Ich hatte Ihnen geschrieben, dass ich nur eine Mutter kenne, bei der die Kinder wütend sein dürfen. Jetzt habe ich noch eine getroffen. Und durch sie weiß ich jetzt, was eine gute Mutter tun kann.

Ich traf Maria durch Zufall. Ich habe sie 10 Jahre nicht gesehen. In der Zwischenzeit hat sie zwei Kinder bekommen. Ihr erstes Kind Klara ist 3 Jahre alt, ihr zweites Kind 4 Monate. Wir verabredeten uns, und ich besuchte sie zuhause.

Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, ging es dir so schlecht. Du hattest diese Rückenschmerzen, sagte sie.

Ich lächelte, weil ich froh bin, schon länger keine Rückenschmerzen mehr zu haben.

Ja, sagte ich.

Ich erzählte von meinem Rücken, von den Übungen die ich machte und daß ich dennoch einen Bandscheibenvorfall hatte. Dass es in der Zeit meiner Rückenbeschwerden einen Tag gab, an dem ich keine hatte. Das war am Tag der Beerdigung meines Vaters.

Mein Vater schlug mich, da war ich 2 Jahre alt, sagte ich.

Er hat dich immer geschlagen, fragte sie.

Das letzte Mal hat er mich zusammengeschlagen, da war ich 16 und meine Mutter und meine Schwester saßen da und schauten zu, sagte ich.

Dann erzählte ich, dass die meisten Kinder keine Wut haben dürfen. Sie dürfen sie im Kindergarten nicht haben und sie dürfen sie in der Schule nicht haben, und sie dürfen sie vor allem nicht gegen den Vater und gegen die Mutter haben. Und daß mir jemand ein Buch über Wut gab, das mir geholfen hat. Aber das entscheidende war, dass ich bei Alice Miller las, daß ich nicht verzeihen muss. Dass ich meinen Eltern nicht verzeihen muss.

Und das musstest du in einem Buch lesen, fragte sie erstaunt.

Ich schon, sagte ich.

Ich weiß das schon immer, sagte sie.

Das ist gut. Dann brauchst du das nicht lesen, sagte ich.

Ich habe schon immer die Wahl gehabt, sagte sie.

Sie saß in ihrem Stuhl und das Baby trank an ihrer Brust.

Es gibt Frauen, die sagen, so lange er mich schlägt, liebt er mich. Aber das ist keine Liebe, sagte ich.

Ich konnte schon immer wählen, wen ich mochte, sagte sie.

Ich schaute sie etwas verdutzt an und lächelte.

Meine Mutter hat mich von nichts überzeugt. Man muss ja nichts machen. Ich habe immer die Wahl gehabt. Meine Mutter hat mich nie zu irgendetwas überredet, sagte sie.

Bald danach, ich radelte vor mich hin, fiel mir auf, dass es genau das ist, was ich nicht lernen konnte, weil ich es nicht lernen durfte, und weil es mich meine Eltern nicht lehrten, die Wahl zu haben. Wählen zu können. Wählen zu dürfen, wen ich mochte und wen nicht. Wenn ein Kind die Wut zeigen darf, lernt es zu lieben, den zu lieben, der ihm Gutes tut, und den nicht zu mögen, der ihm Leid antut. Es ist so einfach.

Ich hoffe es geht Ihnen gut.

Mit herzlichen Grüßen , HR

AM: Sie machen da eine ganz wichtige Feststellung, indem Sie schreiben: „Wenn ein Kind die Wut zeigen darf, lernt es zu lieben, den zu lieben, der ihm Gutes tut, und den nicht zu mögen, der ihm Leid antut.“ Doch die Religionen verlangen genau das Unmögliche: Die Unterdrückung der Wut und liebevolle Gefühle, die doch nicht echt sein können, solange der berechtigte Zorn nicht leben darf. Auf diese Weise wurden wir fast alle erzogen und fahren fort, die Kinder zum „artigen“ Verhalten zu erziehen

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet