Die ach-so-schöne Kindheit in einer Waldorf-Familie
Wednesday 02 July 2008
Sehr geehrte Frau Miller,
zufällig bin ich auf Ihre Werke gestoßen! Ich las in sehr kurzer Zeit Evas Erwachen, Drama d. beg. Kindes und Revolte d. Körpers. Ich werde mehr lesen-
Ich bin mir soooo sicher. Sie haben eine Wahrheit erkannt und den Mut gehabt diese kundzutun. Vielen tausend Dank!!!
Nun fängt meine Arbeit an. Hätten Sie mich vor einem Monat nach meiner Kindheit gefragt, ich hätte Ihnen voller Überzeugung geantwortet, dass diese traumhaft gewesen sei. So richtig idyllisch. Wir lebten als Familie auf dem Land, eine leicht Waldorf-angehauchte Familie (Sie wissen schon, die schönen Stoff-Puppen), ausschließlich demeter-Essen, also BIO, und 12 Jahre Waldorfschule, inkl. Kindergarten.
Aber:
Bin ich glücklich? Nach außen hin vielleicht. Ich bin „gesund“, sportlich, attraktiv und habe eine super Ausbildung genossen, einen guten Job, Mann und Kind. Aber warum:
– war ich mal Magersüchtig?
– Warum kann ich mich so sehr gut geißeln?
– Warum habe ich kein Selbstbewusstsein?
– Warum bin ich sehr eifersüchtig, obgleich mein Mann mir keinen Anlass gibt?
– Warum habe ich mein Baby fallengelassen?
– Warum habe ich Schamgefühle beim Sex?
Jetzt nachdem ich Ihre Bücher las, spüre ich wie sehr Sie Recht haben, denn ich spüre in mir einfach NICHTS. Als, wenn ich keine Gefühle hätte.
Klar, ein Milchkaffee trinken gehen, schönes Wetter und sich mit Freunden treffen ist ganz nett- und dann? Wo sind die (abgespaltenen) Gefühle?
Als Kind habe ich nicht so schreckliche Mißhandlungen erlebt, wie viele hier. (Zumindest ist es mir bisher nicht bewußt.) Ich bekam die „softe Variante“ zu spüren. Sie bestand aus:
– völliger Entzug von jeglichem Körperkontakt.
– Kein aussprechen von Gefühlen.
– Als Kindergarten Kind musste ich ca. 3 km alleine nach Hause laufen, weil ich etwas unwahres gesagt hatte. (Und was macht das Kindergarten-Kind auf dem Heimweg? Es macht sich alles schön, denkt: „Ach, ist alles gar nicht so schlimm, denn wenn ich nicht nach Hause hätte laufen müssen, hätte ich nicht diese schöne Sommerwiese gesehen.“)
-Wenn ich „frech“ war, wurde ich in den dunklen Keller gesperrt.
-Als ich ca. 7 Jahr alt war, ging meine Mutter mit mir zum Arzt (natürlich ein Homöopath, denn ich hatte gute Eltern) und fragt, ob alles ok bei mir sei, denn sie hätte das Gefühl, dass ich sehr „sexuell“ sei. Ich hatte nämlich nachgefragt, wann ich Brüste bekommen würde, nachdem ich eine stillende Mutter gesehen hatte und „Kuß-Fangen“ in der Schule gespielt.
– Der Kochlöffel zerbrach, als ich ihn auf den nackten Hintern bekam, deshalb war es eigentlich etwas witziges. (So mache ich es mir schön.)
– Wenn ich auf den Hintern geschlagen wurde, musste ich meine Hose selbst runterziehen und zu meiner Mutter gehen. (Wie krank!!!)
– Ohrfeigen gab es immer wieder mal und
– zu viele „dumme“ Fragen („Ich hätte wohl Dünnschiss im Kopf.“) sollte ich nicht stellen.
Meine Mutter kann es immer noch nicht lassen, insbesondere vor anderen Leuten gemeine und fiese Dinge zu mir und über mich zu sagen. Sie bemerkt angeblich gar nicht was sie sagt.
Immer wieder versuchte ich mit ihr ein bereinigendes Gespräch zu führen, sie blockiert es.
Und jetzt lese ich Ihre Bücher und mir wird klar, dass ich soooooo eine Riesenangst vor meiner Mutter, diesem „Mütterchen“ habe, die alle anderen so nett finden und die sich so sehr für die Verbesserung der Welt einsetzt. Natürlich habe ich keine körperliche Angst vor ihr, aber psychisch, denn: Sie könnte ja irgendetwas in meinem Leben nicht gut finden.
Sie lebt seit 20 Jahren ohne Mann und es wird keiner verstehen, wenn ich auf einmal so „gemein“ zu meiner Mutter bin und wieder nur Ärger mache.
Aber es nützt nichts, ich will diese Blockaden durchbrechen. Das schulde ich mir und unserem kleinen Kind, dass diesen Sch … nicht bekommen soll. Ich hoffe so sehr, dass ich an diese verschütteten Gefühle komme. Momentan suche ich eine Therapeutin.
Vielen herzlichen Dank für Ihre Werke.
Herzlichst, S. S.
AM: Es ist nicht leicht, eine „schöne“ Waldorf-Familie zu durchschauen und dies ohne „ja aber“ zu tun. Das ist Ihnen gelungen, und ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Klarheit und Ihrer mutigen Entscheidung, der Wahrheit nicht auszuweichen. Sie werden sich sicher helfen können, wenn Sie sich beim Suchen nach einer Therapeutin Zeit lassen, die richtige zu finden. Meine FAQ Fragenliste kann Ihnen dabei helfen. Wenn Sie bei Ihrer Suche Fragen haben, können Sie uns wieder schreiben.
Wenn ich Therapeuten kennen würde, die Respekt genug hätten, um Ihre Fragen zu beantworten; die frei genug wären, um ihre Empörung über das zu zeigen, was Ihre Eltern Ihnen angetan haben; empathisch genug, wenn die seit Jahrzehnten in Ihrem Körper angestaute Wut es braucht, frei zu werden und von Ihnen ausgedrückt zu werden; weise genug, um Ihnen nicht Vergessen, Vergebung, Meditation und positives Denken zu predigen; ehrlich genug, um Ihnen nicht leere Worte wie Spiritualität anzubieten, wenn sie vor ihrer eigenen Geschichte Angst haben, und die nicht Ihre lebenslangen Schuldgefühle noch vergrößern – dann wäre es mir mit Sicherheit eine Freude, Ihnen ihre Namen, Adressen und Telefonnummern zu geben.
Leider kenne ich sie nicht, doch ich möchte immer noch hoffen, dass es sie gibt. Wenn ich jedoch im Internet nach ihnen suche, dann finde ich jede Menge esoterischer und religiöser Angebote, sehr viel Verleugnung, kommerzielle Interessen, traditionelle Fallen, jedoch ganz und gar nicht das, wonach ich suche. Aus diesem Grund gab ich Ihnen mit meiner FAQ Liste ein Werkzeug, damit Sie Ihre eigenen Forschungen anstellen können. Wenn ein Therapeut sich weigert, Ihre Fragen von Anfang an zu beantworten, dann können Sie sicher sein, dass Sie Zeit und Geld sparen, wenn Sie ihn verlassen. Wenn Sie es aus Angst vor Ihren Eltern nicht wagen, Ihre Fragen zu stellen, mag Ihre Angst höchst verständlich sein. Es könnte allerdings nützlich sein, es dennoch zu versuchen, weil Ihre Fragen wichtig sind und Sie nur gewinnen können, wenn Sie den Mut haben, sie zu äussern.