Wir fühlen jetzt, was damals zu fühlen unmöglich war

Wir fühlen jetzt, was damals zu fühlen unmöglich war
Wednesday 03 June 2009

.

Liebe Frau Miller,

Entschuldigung. Ich weiss keinen Rat mehr. Ich bin so unendlich verzweifelt. Ich kann nicht mehr schlafen. Ich muss weinen. Ich bin VERZWEIFELT. Ich kann auch nicht mehr essen.

Mein Freund ist vergangenen Donnerstag aus Japan nach Deutschland gekommen.
Er ist Japaner und wir hatten beschlossen, dass er zu mir nach Deutschland ziehen kann.

Ich bin 46 Jahre, männlich und er ist 20 Jahre jünger. Wir hatten uns vor 1,5 Jahren in Berlin kennengelernt.

Ich hatte mich so gefreut, ihn um mich zu haben und nun merke ich, dass irgendetwas in mir
sich verkrampft. Ich möchte gleichzeitig mit ihm sein und gleichzeitig geht es irgendwie nicht.

Es ist ein Schock für mich. Und ich fühle mich so entsetzlich schuldig. Er ist für MICH hier her gekommen. Ich kann ihn doch nicht zurück schicken. Und ich will es auch nicht.

Ich habe die letzten Nächte nicht geschlafen.
Wenn er nicht da ist, habe ich Angst, ihn zu verlieren und wenn er da ist, fühle ich mich überfordert.

Wir haben darüber geredet. Oft, die letzten Tage. Und wir haben lange geweint. Und es ist so entsetzlich für mich, wenn er weinen muss. Ich will ihm keine Schmerzen bereiten.

Unser gemeinsames Leben bestand bisher aus gegenseitigen Besuchen. Als ich ihn kennenlernte, war er danach noch etwa vier Monate bei mir. Dann ist er nach Japan zurückgeflogen. Zwei Monate später war ich für zwei Wochen dort. Wieder zwei Monate danach war er wieder zwei Monate hier, dann nochmal für zwei Wochen im Januar. Und nun endlich sollten wir uns haben.

Unsere Beziehung bestand also aus Abschied und Sehnsucht. Dabei habe ich den gelegentlich auftauchenden inneren Stress nicht wahrgenommen oder wollte es auch nicht. Weil der Abschiedsschmerz – und danach, wenn er wieder fort war, die Sehnsucht immer stärker waren.
Wir haben sooft am Flughafen geweint. Es zerbricht mir das Herz, wenn ich daran denke.

Wir machten uns Gedanken darüber, wie das gehen soll hier in Deutschland mit uns gemeinsam. Die Zeit des Wartens auf meinen Freund wurde immer länger und ich konnte es nicht aushalten, zu warten. Jetzt, wenn ich darüber nachdenke, fällt mir auf, dass ich schon damals ein eigenartiges Gefühl hatte.
Um den Weg zu ebenen, habe ich dann vorgeschlagen, eine eingetragene Lebenspartnerschaft einzugehen. Darüber war er total glücklich. Möglicherweise bin ich für mich einen Schritt zu weit gegangen?

Und nun ist er da und es ist ein Schock für mich, dass es irgendwie nicht geht. Dabei sehne ich mich doch so nach ihm. Seine Wärme, seine Augen, seine Zärtlichkeit. Und es ist so schrecklich, so unendlich schrecklich, dass ich es nicht (mehr?) annehmen kann. Dabei ist er so zärtlich und ich konnte auch bei ihm weinen, wenn es mir schlecht ging.

Ich erinnere mich an so wunderschöne Stunden miteinander. So wunderschöne.

Wir hatten, immer, wenn er da war (und auch in Japan), so viel miteinander unternommen, dass ich mich vielleicht damit abgelenkt hatte und so meine Bedenken begrub.

Habe ich vielleicht unbewusst jemanden gesucht, der auf Distanz ist, weil ich Nähe nicht lange ertragen kann? Oder…

Manchmal denke ich, ich muss ihn benutzen, um eine alte Geschichte mit ihm durchzuspielen.
(Dieses unbestimmte Gefühl hatte ich übrigens manchmal). Und dafür fühle ich mich auch irgendwie schuldig vor ihm.

Als ich acht oder neun Jahre alt war, bin ich auf ein katholisches Internat in Dresden gekommen (Knabenchor). Meine Eltern durfte ich nur in den Schulferien besuchen.
Ich kann mich an das erste Jahr nicht erinnern. Ein Freund aus der Internatszeit sagte mir, ich wäre ihm immer wie ein bisschen durchsichtig, abwesend erschienen. Irgendwer von da meinte auch, ich hätte wohl Heimweh gehabt. Ich kann mich nicht erinnern. Ich weiss nur, das ich später, wenn ich an Dresden oder an Knabenchöre erinnert wurde, immer eine unbestimmte Traurigkeit bekam, so, als ob ich irgendetwas nachtrauern musste. Als hätte ich etwas dort gelassen.

Meine Eltern können sich auch beide nicht an den Moment erinnern, als sie mich damals nach Dresden gebracht haben. Wer mich entgegengenommen hat usw. Ein eigenartiges Schweigen.
An den Urlaub, der ein paar Wochen davor stattfand, können sie sich lebhaft erinnern.

Meine Mutter erzähle mir: Als ich etwa zwei Jahre alt war, war ich für zwei Wochen im Krankenhaus. Meine Mutter hatte sich damals nicht getraut, mich im Krankenhaus zu besuchen. Sie hatte vor irgendetwas Angst. Stattdessen hat sie meine Oma zu mir geschickt und hat selbst vor dem Krankenhaus gewartet.

Die Kommunikation ist in unserer Familie übrigens sehr eingeschränkt.
Ich hatte auch vergessen zu sagen, dass wir, mein Freund und ich uns auf englisch unterhalten.
Das ist natürlich auch nicht einfach.

Liebe Frau Miller.
Ich weiss nicht mehr ein noch aus. Manchmal denke ich, dass ich nicht richtig weiss, was ich wirklich will. Wer kann mir helfen? Es ist, als hätte ich mir selbst den Rückzug abgeschnitten. Ich weis nicht mehr weiter. Ich fühle mein Leben bedroht. Das ist kein Scherz.

Können Sie mir vielleicht nur ein paar Zeilen schreiben?
Ich hoffe, es ist nicht unhöflich.

Ihnen Alles Gute
und Danke für eine eventuelle Antwort.

Ihr FK.

AM: Sie können sich nicht an die Zeit im Knabeninternat in Dresden erinnern, aber es macht den Eindruck, dass Sie die Traurigkeit aus dieser Zeit jetzt ganz intensiv ERLEBEN. Sie brauchen sie nur einzuordnen, dann kommt vielleicht eines Tages die ganze verzweifelze Wut auf Ihre Eltern, die Sie dort fremden Leuten überlassen haben, ohne sich nach Ihrem Wohlergehen zu erkundigen. Heute können sie sich nicht mal erinnern, wer Sie dort in Empfang genommen hat. Alles, was Sie hier über Ihr heutiges Empfinden beschreiben, passt genau zu der Situation von DAMALS, aber Sie scheuen sich, diesen Zusammenhang deutlich zu sehen, weil Sie Angst haben, Ihren Zon zu spüren, dass Ihre Eltern Ihnen die Komunikation verweigert haben. Ihre Mutter hatte so viel Angst vor der Kommunikation mit Ihnen, dass Sie die Großmutter in die Klinik schickte. Ich denke, wenn Sie Ihre heutigen starken Gefühle mit den damaligen Situationen verknüpfen können, werden Sie die Freiheit von der Vergangenheit erreichen, die Sie sich so sehr wünschen

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet