Vergebung – Flucht vor sich selbst
Sunday 05 March 2006
Sehr geehrte Frau Dr. Miller,
ich habe gerade „Die Revolte des Körpers“ fertig gelesen und glaube jetzt zu verstehen, weshalb Sie in Ihren letzten Büchern so stark gegen das Konzept der Vergebung „ankämpfen“. Lange glaubte ich nämlich, dass mir gerade das geholfen hätte. Doch ich fange an, daran zu zweifeln.
Vor fünf Jahren begann ich eine klassische Analyse, drei mal die Woche auf der Couch, weil ich immer wieder starke Aggressionen an meinen Kindern ausgelassen habe und die Wut nicht beherrschen konnte, obwohl ich deswegen litt. Ich hatte keine Erinnerungen an meine Kindheit, hatte aber von meiner Mutter gehört, wie sie mir in den ersten Lebensjahren mit Erfolg Gehorsam beigebracht hatte. Mir gelang das bei meinen Kindern nicht, sie wollten nicht folgen, und das brachte mich zur Verzweiflung. Ich habe unter meiner Härte gelitten, auch unter dem starken Juckreiz. In der Analyse spürte ich gelegentlich auch eine Wut auf meine Mutter, doch der Analytiker half mir zu verstehen, dass meine Eltern als Kinder sehr haben leiden müssen, weil sie beide als Waisenkinder in Heimen bei Nonnen aufgewachsen sind und dort viel Gewalt einstecken mussten. Ich bekam schnell Mitleid mit meinen Eltern, es gelang mir, ihnen alles zu verzeihen, weil ich sie als Opfer sehen konnte, und ich nahm wieder den abgebrochenen Kontakt auf. Eine Zeit lang ging es besser, auch mit meinen Kindern, aber vor einem Jahr hat sich der Juckreiz verstärkt und vor kurzem bekam ich aus heiterem Himmel die Diagnose „multiple Sklerose“. Mein Analytiker meint zwar, dies hätte nichts mit meiner Kindheit zu tun, weil es eine rein somatische Krankheit sei, aber ich frage mich jetzt, ob ich nicht doch noch sehr viel Wut in mir herumtrage, die ich ständig zu unterdrücken versuche.
AM: Sie haben durchaus recht, wenn Sie sich diese Frage stellen. Sie wissen von Ihrer Mutter, dass Sie sehr früh geschlagen wurden, Sie können sich weder an die seelischen, noch an die körperlichen Schmerzen des kleinen Wesens erinnern, das gezwungen war, sein Leiden zu verdrängen. Aber mit der MS kann der Körper diese Schmerzen aufleben lassen, wenn etwas in der Gegenwart Sie daran triggert (zum Beispiel das Gefühl, in größter Not von niemandem verstanden zu werden). Wenn Ihr Analytiker dies nicht einmal in Betracht zieht, versuchen Sie sich einen Therapeuten zu suchen, der vor Ihrer Geschichte keine Angst hat. Vielleicht kann Ihnen meine FAQ Liste bei dieser Suche behilflich sein.
Was Ihnen Ihr Analytiker empfohlen hat, ist meines Erachtens genau das, was uns krank macht, weil es die berechtigte Wut erstickt. Die Versöhnung kann eine Zeit lang Erleichterung verschaffen, weil sie die quälenden Schuldgefühle abschwächt. Man fühlt sich wie ein braves, also geliebtes Kind, falls man die Misshandlung verzeiht. Aber der Körper besteht auf der Wahrheit.
Ich selber habe schon als Kind alles getan, um meine Eltern zu verstehen, und habe diese Bemühungen, wie vermutlich die meisten Analytiker, Jahrzehnte lang erfolgreich fortgesetzt. Doch genau dies hinderte mich, das Kind zu entdecken, das Qualen unter ihnen gelitten hat. Ich kannte dieses Kind nicht. Nicht im geringsten. Ich kannte nur das Leiden meiner Eltern, auch meiner Patienten und Freunde aber niemals das meine. Erst als ich es aufgab, die Kindheit meiner Eltern zu verstehen (die sie ja selber gar nicht kennen wollten), wurde es mir möglich, das ganze Ausmaß meiner Schmerzen und Ängste zu fühlen. Erst dann entdeckte ich langsam die Geschichte meiner Kindheit und fing an, mein Schicksal zu erkennen. Und erst dann verlor ich meine körperlichen Symptome, die mir so lange vergeblich versucht hatten, meine Wahrheit zu erzählen, während dem ich meinen Patienten zuhörte und erst durch ihre Schicksale hindurch zu ahnen anfing, was geschlagenen Kindern passiert. Ich habe begriffen, dass ich mich verraten hatte. Wie so viele Analytiker wusste ich nicht, wer ich eigentlich war, weil ich mich auf der Flucht vor mir selber befand und meinte, anderen helfen zu können. Ich denke heute, dass ich nur mich verstehen muss, um andere zu verstehen, und nicht umgekehrt.