Warum nur so wenige?

Warum nur so wenige?
Tuesday 20 June 2006

Sehr geehrte Frau Miller,
auch ich bin zutiefst betroffen und erschüttert von Astrids Johnkes Bericht (17.06.06). es ist tatsächlich ein wunder, daß sie es trotz dieses massiven mißbrauches geschafft hat aufzudecken und zu erkennen, daß sie ein opfer war und die eltern und erwachsenen, die ihr das angetan haben, die täter. sie schreibt mit großer klarheit und benennt die dinge eindeutig.
als wunder hab auch ich oft meine erkenntnis und meine befreiung empfunden und empfinde sie noch so. ich bin so unglaublich glücklcih darüber, daß ich es geschafft habe und in den momenten, in denen ich so zutiefst glücklich bin, wenn ich z.b. die natur so sehe wie noch nie zuvor, wenn ich gespräche führe wie noch nie zuvor, wenn ich mcih so gesund fühle wie noch nie zuvor, dann weine ich vor glück. und ich stelle mir auch die frage: wieso hab gerade ich es geschafft. wieso haben manche menschen die kraft und manche nicht? sicher hängt es davon ab wem man begegnet, das ist klar. ist ein wissender zeuge darunter ist es ein großes glück. aber ich hatte immer schon so eine kraft in mir. schon in der volksschule kann ich mich an situationen erinnern wo ich ganz klar dinge aufgedeckt habe und wie es mich zur wahrheit gezogen hat. wieso ist das so? vielleicht weil meine mutter mich oft verteidigt hat, als mein vater mich geschlagen hat. sie hat sich nie von ihm getrennt, sie hat mich gedemütigt und verlacht, aber es gab situationen wo sie sich ganz klar auf meine seite gestellt hat und meinen vater angeschrien und angeklagt hat. das ging bis zur scheidungsandrohung.
wieso ist mein bruder nicht so wie ich. er hatte doch dieselben eltern. wieso hat er es nicht geschafft? wieso hat astrid es geschafft, wieso hat sie diesen unglaublichen mut, diese unglaubliche kraft. sie hat nie aufgegeben, immer weitergesucht, bis sie die antwroten gefunden hat. so wie ich, ich hab auch nie aufgehört zu suchen.

nach wie vor beschäftigt mich auch die frage, wieso es beim menschen überhaupt zu dieser entwicklung gekommen ist. wo war der sprung und warum, als menschen begonnen haben ihre kinder zu mißbrauchen und zu quälen. diese frage ist auch im forum ourchildhood.de aufgetaucht.

mit lieben grüßen
V

AM: Vielen Dank für Ihre Fragen, die ich mir auch seit langem stelle. Lange war ich der Meinung, dass nur Menschen, die zwar missbraucht wurden, aber auch in sehr früher Lebenszeit etwas Zuwendung bekamen, die Möglichkeit haben, von der Idealisierung ihrer Eltern wegzukommen. Weil in den schwersten Fällen, ohne helfende Zeugen nur die Illusion ihr Überleben sichern konnte. So hängen sie an dieser Illusion und der massiven zerstörenden Verleugnung ihres Leidens bis zu ihrem Ende. Doch der Fall von Astrid beweist, dass es auch in den schlimmsten Fällen möglich sei, eines Tages die Augen zu öffnen und die Wahrheit sehen zu wollen.
In Ihrem Fall war es vielleicht die Tatsache, dass Ihre Mutter Sie (wenn es nur manchmal war) in Schutz vor den Schlägen des Vaters nahm. Das genügte, dass in Ihnen die natürliche Reaktion der legitimen Wut erhalten blieb und das Bewusstsein des Unrechts nicht abgetötet wurde, wie dies in in den meisten anderen Fällen geschieht. Solche Kinder verteidigen ihre Eltern total und leiden als Erwachsene schwer unter körperlichen Symptomen.
Wann hat die Misshandlung der Kinder angefangen? Ich weiss es nicht. Es gab in den 80er Jahren eine Reihe von feministischen Büchern, die von einem Matriarchat in früheren Zeiten berichteten, in dem es keine Gewalt gab, wo alle friedlich leben konnten. Ich kann das nicht überprüfen, doch ich sehe heute, dass Frauen den Männern in der Gewalttätigkeit an sich nicht nachstehen. Ihren Wirkungskreis bilden leider Säuglinge und Kleinkinder. Daher stellt sich für mich nicht die theoretische Frage, was war früher, ich spekuliere nicht, ich beschäftige mich mit dem, was ich JETZT sehe, und was die Menschen nicht sehen wollen, weil es schmerzhaft ist. Das Spekulieren über vergangene Zeiten tut nicht weh, aber bringt auch keine Lösungen für die Menschheit, die ihren Nachwuchs im zartesten Alter schädigt. Die Vorstellung, dass es “früher” anders, besser, war, stammt vielleicht aus unserer Kinderzeit, als wir nicht glauben konnten, dass man so grausam sein kann mit einem kleinen Wesen. Wir sehnten uns nach den besseren Zeiten. Ob es diese jemals gab, weiss ich nicht. Gab es jemals das Paradies? Wenn ja, warum hat Gott bereits in diesem Paradies grausame Verbote aufgestellt? Warum sollte der Mensch nicht vom Baum der Erkenntnis essen?

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet