Die Täter von morgen?
Friday 16 June 2006
Sehr geehrte Frau Miller,
ich habe eine große Hochachtung vor Ihrer Arbeit – es war längst überfällig, die öffentliche Aufmerksamkeit auf Themen wie Kindesvernachlässigung, -misshandlung und -missbrauch zu lenken. Und bei der Lektüre Ihrer Schriften konnte ich auch immer nur buddhaartig mit dem Kopf nicken und “Ja, genau so ist es, endlich sagt das mal einer!” murmeln.
An einer Stelle habe ich allerdings ein Problem, und das ist die Vorverurteilung von Gewaltopfern als prospektive Täter (“Die Opfer von heute sind die Täter von morgen.”) Hier wird eine Option als Kausalzusammenhang begriffen, und das bereitet mir Bauchschmerzen.
Ja – Sicherlich übernehmen und tradieren viele Opfer von Gewalt aggressive Verhaltensmuster. Aber etliche eben auch nicht.
Ich habe ja selbst in meiner Kindheit schwere und teilweise existenziell bedrohliche körperliche Misshandlungen erfahren. Doch deswegen habe ich doch nicht automatisch das Bedürfnis, andere selbst zu misshandeln! Ich habe die Aggressionen, die ich als Kind erlebt habe, als schlecht und verurteilenswert empfunden, schon als Kind, und ich war schon mit 8 oder 9 Jahren selbstreflektiert genug, um das, was ich ablehnte, nicht an andere weiterzugeben. In der Schule habe ich mich “aus Prinzip” geweigert, mich mit anderen Kinder zu prügeln, obwohl mir das sicher Vorteile verschafft hätte. Und meine Beziehungen habe ich auch später dann gewaltfrei und weitgehend konfliktarm gehalten, als Kooperation gleichberechtigter Partner. Es war nicht immer einfach, aber es war möglich.
Ebenso habe ich erlebt, dass Menschen, die in ihrer Kindheit nicht misshandelt wurden, zu Gewalttätern wurden – aus Gedankenlosigkeit, aus Gruppenzwang, aus Langeweile, Frustration oder “einfach so”.
Die Tendenz, das misshandelte Kind als prospektiv gewalttätig (und damit als latent böse) zu begreifen, sehe ich bis zu einem bestimmten Grad als Versuch, Schuldgefühle gegenüber dem Opfer abzuwehren. Man sieht tatenlos zu, wie ein Kind geschlagen wird? Na, wenn schon, es ist ja vermutlich selbst ein kleiner Schläger, und wenn nicht, dann wird es mal einer. Die Schläge, die es bekommt, wird es zwanzig Jahre später sowieso verdient haben, also was solls.
Ich habe (um das mal zu illustrieren) als ich erwachsen war, einmal das Gespräch mit einem passiven Mitwisser – einem nahen Verwandten – gesucht: “Warum hast du eigentlich nicht die Polizei gerufen, als meine Mutter ankündigte, dass sie mich umbringen will?” (Sie wollte sich umbringen und mich in den Tod mitnehmen. Es war eine sehr kritische Situation. Ich war acht Jahre alt.) Die Reaktion des Mitwissers war: “Dafür kann ich doch nichts. Du hättest doch selbst die Polizei rufen können. Und überhaupt, willst du mir jetzt Vorwürfe machen, oder was? Suchst du Streit, oder wie? Du bist aggressiv, aber es ist kein Wunder, dass du so aggressiv bist, du hast ja nichts anderes gelernt. Vor einer wie dir muss ich mich doch nicht rechtfertigen.”
Nun, es war sehr schwer, in dieser Gesprächssituation nicht rot anzulaufen und “Ich bin nicht aggressiv!!!!” zu kreischen. ;o)
Aber – zurück zum Thema. Sobald ich einen der Mitwisser von gestern nach ihrer Verantwortung befrage und möglicherweise Schuldgefühle verursachen könnte, wird mir eine latente, dem Gewaltopfer sozusagen wesenseigene ethische und emotionale Minderwertigkeit bescheinigt. Und das bereitet mir – wie schon erwähnt – Bauchschmerzen.
Mit freundlichen Grüßen
L. P.
AM: Sie gehen von einem Missverständnis aus. Trotzdem werden wir Ihren Brief hier publizieren, weil man diesem Missverständnis häufig begegnen kann. Ich habe sehr häufig darauf hingewiesen, dass meiner Meinung nach jeder Täter früher ein Opfer war, aber natürlich nicht jedes Opfer zum Täter werden muss. Nur diejenigen, die ihr Leiden in der Kindheit leugnen, es herunterspielen, darüber spotten, sind in Gefahr zu Tätern zu werden. Wer sein Leiden ernst nehmen kann, braucht es nicht an anderen zu rächen. Daran habe ich nicht die geringsten Zweifel, auch nicht an der Tatsache, dass Menschen, die eine positive Aufmerksamkeit in der Kindheit erfahren haben, kein destruktives Potential in sich tragen, keine Zeitbomben sind und Empathie für sich und andere haben. Da aber die in der Kindheit erlittenen Qualen meistens unbekannt, weil verleugnet, sind, und die Kindheit häufig idealisiert wird, hört man gelegentlich die Behauptung, dass es destruktive Menschen gibt, die eine gute Kindheit hatten. Doch das halte ich für unmöglich. Nur das emotionale Bewusstwerden dessen, was uns in der Kindheit widerfahren ist, und die Empathie für das Kind, das wir einst gewesen sind, schützen uns vor dem blinden Wiederholen des eins unbewusst Erlittenen.