Das Tabu Kindheit

Das Tabu Kindheit
Tuesday 17 November 2009

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Danke für Ihre wärmenden Worte.

Vorgestern habe ich gelesen, dass der Vater von Robert Enke Psychotherapeut ist und öffentlich über sein Leid als Vater klagt, und dass sein Sohn als jugendlicher Versagensängste hatte. Natürlich nicht vorher, denn dann müsste er ja selbst irgendwie als Vater noch näher in den Vordergrund treten. Auch dass er seinen Sohn retten wollte, sagt der Vater, aber das hätte der Sohn nicht haben wollen. Die Mutter taucht nicht auf. Die Väterriege redet über ihr Leid mit den Söhnen und die Mütter bleiben im Hintergrund. Der Sohn Robert, das Kind, ist und bleibt der Versager, der Versager im Leben, der Versager der Hilfe und derjenige, der dem Vater die „Liebesbezeugung“ versagt. Robert ist und bleibt der Versager für seinen Vater, und wie es aussieht für alle Medien. Das hat mich so wütend gemacht, und gestern habe ich in Du sollst nicht merken das Kapitel über den Wolfsmann und Ödipus und andere Beispiele über das Versagen der Analytiker wieder gelesen. Das hat mich noch wütender gemacht, weil scheinbar keiner seine Angst als Kind vor seinem Vater und seiner Mutter sehen kann, geschweige denn erfühlen, wie weit die Angst zurückreichen kann und wie verheerend und fundamental sie als Todesangst für das Kind tatsächlich auch begründet ist. Sie haben das vor 26 Jahren geschrieben und mich fröstelt vor dem eisigen Wind der Ihnen dafür entgegen geweht sein muss. Später ist mir dann wieder der Satz meines Vaters eingefallen, dass man die Hand nicht beißen soll, die einen füttert, und dass ich aus meinem Vater einmal im Traum einen schwarzen Kampfhund machte, der nach allem beißt und schnappt, gerade wie es ihm beliebt.

Das folgende habe ich heute früh geschrieben.

Herzliche Grüße

Hugo Rupp

Du sollst die Hand nicht beißen, die dich füttert.

Das Kind darf nicht wütend sein gegen die Hand, egal was diese Hand tut.

Du bist als Kind immer anwesend. Du kannst nicht anders, als anwesend sein. Du kannst dich nicht verstecken oder verschwinden und dich wegschummeln. Du, das Kind, bist ausschließlich anwesend. Es gibt keine andere Form für dich als deine Gegenwart. Du hattest keine Möglichkeit, eine andere Form zu wählen. Du bist der Gegenwart ausgesetzt. Du bist der Gegenwart ausgesetzt gewesen als Kind, ohne wenn und aber. Wenn du glaubst, dass es für das Kind eine andere Form als seine Gegenwart gibt, stiehlst du dich davon und lässt dich dort allein zurück, wo du als Kind allein für dich verweilen musstest. Weil du dich nicht rühren kannst und gehen kannst und nicht vermagst für deinen Lebensunterhalt zu sorgen. Du bist als Kind deiner Gegenwart ausgesetzt und somit deinen Ängsten, ohne eine Möglichkeit der Gegenwehr, außer deinem Zorn, der dich beschützt.

Du bist überall auffindbar und sichtbar, wenn du dich bemerkbar machst, und ohne Schutz für deine Gegenwart. Du musstest dich bemerkbar machen, auf dich und deine Umstände. Du machtest auf deinen Hunger aufmerksam, auf deine Not.

Dein Zorn macht auf deine Not aufmerksam. Ohne deine Not gäbe es keinen Zorn und keine Wut.

Ohne meinen Zorn gäbe es mich nicht mehr. Sie hätten mich verhungern lassen in der Einsamkeit meines Körpers. Mein Vater war nicht anwesend, und meine Mutter ging in immer andere Zimmer, auf der Flucht vor mir. In späteren Jahren war ich auf der Flucht vor ihr, das war dieselbe Reaktion, die ich doch von ihr lernen musste unter Schmerzen. Doch einst, am Anfang gab es keine Flucht für mich, das Kind. Ich war die Gegenwart, ich musste jede Gegenwart ertragen, ich brauchte jede Gegenwart, um in meiner Einsamkeit nicht zu verfallen. Ich habe keine Bilder für die Einsamkeit der ersten Zeit, es gibt für mich kein einziges, das jene Zeit in mir beschreibt, in der ich ausgesetzt war, meinem Hunger, der nur mit Hilfe meiner Eltern und ganz besonders meiner Mutter zu stillen war. Mein Hunger war nur für mich da, und sonst für niemanden. Mein Hunger war das ganze große Meer, in dem ich einsam und verlassen lag, um mich nur leere Weite. Ich schreie heute noch und das ist keine Kunst. Ich schreie ohne einen Namen und schreie nur für mich. Ich konnte mich nicht anders melden, es ist mein Zorn der mir beisteht. Die Kunst ist für mich als Kind nicht greifbar, die Sprache habe ich nicht erfunden. Der Hunger bin ich, ich der hungert. Ich hungere, ich schreie, ich leide schrecklich in der Gegenwart. Du Kind vermeldest deine Schmerzen und bist einsam. Du hast kein Bild für deine Schmerzen. Ich habe keine Zeit.

Der Hungerkünstler von Kafka beschäftigt sich mit dem Hunger und den Bildern und nicht mit seinem Hunger. Der Hungerkünstler beschreibt den Hunger.

Du Kind hungerst immer in der Gegenwart. Wer dich nicht hungern sieht und dich nicht hört, der hat nur einen Begriff für dein Verlassensein und Worte übrig, wo du dich allerdings befindest und wie es aussieht, was dich und deinen Kopf bewegt, das weiß er nicht. Wer seine Schreie hört, sein Weinen, der weiß um seinen Hunger.

Der Schrei und das Weinen sind die einzigen Bilder meines Hungers. Der Ton und die Lautstärke. Die Zusammensetzung der Tränenflüssigkeit sagt nichts über die Gegenwart meines Schmerzes aus.

Ich bin als Kind auf meinen Schmerz versessen. Die Stille ist für mich das wirklich Peinigende. Ich kenne kein Bild, das die Stille des Kindes beschreibt. Es gibt kein Bild der Verzweiflung nach dem Schreien, das mein Kinderherz ergreift, wenn ich fühlte, dass selbst mein letztes Schreien ohne Wirkung, ohne Hilfe blieb. Mein Kind verzeiht auch keine Stille. Die Einsamkeit verzeihe ich niemals, es ist mein Ort für schlimme Qualen, in denen ich belassen wurde und ohne Worte, Hilfezeichen. Wenn meine Mutter sich nicht meldete, dann war sie nicht mehr da. Das Kind kennt nur die Gegenwart, es fühlt nie eine Hoffnung, am Anfang nicht. Es gibt die Hoffnung in Gedanken, in Kinderschreien gibt es keine. Es gibt die Hoffnung nicht. Wer wie ein Kind ausschließlich in der Gegenwart leben muss, wer wie ein Kind zur Gegenwart verpflichtet ist, hat keine Ahnung, dass es Zukunft gibt, dass es außerhalb seiner Gegenwart noch andere Möglichkeiten gibt. Es gibt kein Bild für die Gegenwart. Jedes Bild beschreibt Vergangenes. Mein Kind hat keine Bilder, die es zeigen könnte. Ich war die Gegenwart und die einzige Beschreibung, die es von mir und meinen Bedürfnissen geben kann, ich war der Schmerzensschrei und Zorn und meine Liebe nach den Tönen, Haut und nach Berührungen. Es gibt nur Gegenwart, was hier nicht ist, das wird es niemals wieder geben. Das ist für alle Zeit verloren, nicht existent, was jetzt in dieser Gegenwart, für mich nicht fassbar und verfügbar ist. Ich Kind bin das Verfügbarste. Nach allen Seiten offen. Neben meinem Schmerzenslaut verfüge ich über keine weiteren Mittel um auf mich zu achten und auf mich aufmerksam zu machen.

Du einsames Kind springst auf jede Rettungsmöglichkeit mit allen deinen Sinnen, du schreist vor Aufregung der Rettung hinterher. Du schreist um deine Rettung und schreist der Rettung hinterher. In deiner Gegenwart. In der Gegenwart der Erwachsenen schreit die Rettung mit Sirenen, wenn sie kommt und dass sie kommt.

Du Kind erfährst jetzt keine Rettung. Du schreist bis zur Erschöpfung, schläfst, und gibst dir in Zukunft eine Schuld, dass du nur nicht genug, genügend laut geschrieen hast, dass du nicht gut genug geschrieen hast. Du gibst dir Schuld dafür, dass du nicht laut genug und gut genug für dich geschrieen hast. Weil deine Mutter nicht gekommen ist, gibst du dem Wesen, das du bist, die Schuld dafür, dass du versagt hast, für dich, um deinen Hunger zu beseitigen. Du gibst dir selbst die Schuld dafür, dass du dich nicht genügend um dich gekümmert hast, dass deine Schreie schlecht, zu leise und zu verhalten gewesen sind. Du sagst dir immer wieder, in deinen Träumen, auch Jahrzehnte später, verpasst du Züge, wählst die falschen Zeiten, wählst falsche Telefonnummern, vergisst die Zahlenfolge, verpasst den Zug, das Flugzeug, mit dem du zu deiner Mutter fliegen wolltest. Du weißt nicht einmal, dass es deine Mutter war, die du erreichen wolltest. Du siehst die Mutter nicht, du weißt nichts von der Sehnsucht die du hattest, nach deiner einzigen Rettungsmöglichkeit. Du gibst dir selbst die Schuld dafür, dass du so hungern musstest, weil du die falsche Nummer wähltest. Du gibst dir selbst die Schuld für dein Verhungern. Du gibst dir selbst die Schuld für dein Versagen. Dass du dich selbst versäumtest, dass du das Kind, damals, vor langer Zeit, sich selbst versäumte und nicht rechtzeitig auf sich aufmerksam machte. Du meinst, dass du nicht rechtzeitig auf dich und dein Leiden und deine Schmerzen aufmerksam gemacht hast. Das Kind glaubt, dass es selbst versagt hat, auf seine Not aufmerksam zu machen. Dass es zu lange gewartet hat, auch dafür gibst du dir die Schuld, und plötzlich ist es zu spät, die Mutter ist tot und der Vater weiß nicht, von was das Kind spricht.

Du hattest alles, was du brauchtest. Du hättest nur anrufen zu brauchen, du hättest nur etwas sagen müssen. Du musst nur etwas sagen, wenn du etwas brauchst. Warum hast du nichts gesagt?

Wieder wird dir die Schuld an deinem Versagen gegeben. Du wirst beschuldigt, die Hilfe nicht in Anspruch genommen zu haben.

Wir hätten dir doch helfen können, wenn du nur etwas gesagt hättest.

Die Eltern reden jetzt in einem Ton, den du nicht hören willst. Sie reden von der Hilfe, die es geben könnte. Du Kind verzeihst dir deine Fehler nicht, dass du die Hilfe nicht gesehen hast, dass du die Hilfe ausgeschlagen hast, damals und heute wieder. Du ließest dir nicht helfen, du glaubst, das Kind muss glauben, weil alle die dich von früher kennen, dich nur im Beisein deiner Eltern kennen. Dich selbst, dich kennt doch keiner von den großen Menschen, die man erwachsen nennt. Dich einsames Kind hat damals niemand gehört, und hört auch heute keiner. Die Schuld für dein Versagen wird dir heute noch zur Gänze zugeteilt. Du hast dich für die Mutter immer schon versagt, weil du nicht einmal einen Augenblick mit deinem Hunger selbst zurecht gekommen bist und nicht einmal für einen Augenblick allein sein konntest. Weil du dich nicht um dich selbst kümmern konntest. Denn wenn du das könntest, dann wäre für deine Mutter alles leichter gewesen. Du kannst keine Achtung für die Eltern haben. Du achtes nur auf dich. Du kennst kein Achtung haben.

Du verzeihst dir deine Tränen nicht, weil deine Tränen nie getrocknet wurden. Du vergibst dir niemals deine Tränen, dass du soviel geweint hast in der Nacht. Und du verzeihst dir deine Klagen nicht und auch nicht deine Schmerzen, denn du beschuldigst deine eignen Schmerzen, weil du sie hattest, und niemand anderer.

Ich hatte diese Schmerzen und keinen der sie sah, und Mutter lachte über meine Schmerzen, erzählte Anekdoten. Ich verzeihe mir meine Hilfeschreie nie, weil niemand mir je Hilfe leistete. Du Kind verzeihst dir niemals deine Not, denn Not war alles was du kanntest, die Not allein gelassen, in Not allein gelassen, in Not für dich und sich allein gelassen; und deine Tränen weinten nur ins Leere. Dein Weinen wird beschämt. Sie schämten sich für dich, dass du soviel von deinem Weinen zeigtest, dass du soviel auch vor den anderen geweint hast, weinen musstest. Du Kind verweintest alle Leute. Du Kind bist weinerlich. Jetzt weinerlich gemacht. Du Kind warst nie ein Starker. Du Kind bist schwach, weil du dich selbst nicht bändigst, weil du Weinen nicht bestrafst, weil du dein Weinen auch nicht zügeln konntest. Du redest mit dir selbst, bist schwach, weil ich nur weine, weil ich nicht einmal selbst mich retten kann.

Ich schluckte meine Tränen. Ich werde nie mehr weinen. Mein Weinen hat jetzt ausgeweint. Mein Weinen ist nicht mehr gestattet. Ich habe mich verlassen.

Es gibt kein Bild für meinen Hunger, weil es kein Bild für meine Rettung gibt. Es gibt kein Bild für mich von meiner Rettung, weil es nie Rettung für mich gab. Es gibt kein in der Not gerettet werden Bild, weil es die Rettung niemals gab, weil es die Hilfe niemals gab, weil es das Bild nicht gibt, da es die Liebe in der Not nicht gab. Das ist kein Bildverlust. Du hast kein Bild verloren. Es gibt kein Bild von dieser Tat, dass dir einst jemand in der höchsten Not, als Kind in deinem Bettchen, allein, geholfen hätte. Es gibt das Bild nicht in Gedanken, weil es das Bild auch niemals in deiner Wirklichkeit gab. Es ist auch kein Versagen und auch kein Erinnerungsverlust. Es gibt da kein Versagen und nicht einmal Erinnern. Es gibt auch nichts, was du vergessen hast, da es nichts gibt, das du vergessen hättest können. Es gibt kein Bild der Hilfestellung. Des einen Zeugen, der dir beistand in der Enge deines Herzens, dein Weinen hörte, dich besuchte, dir aufhalf und dich tröstete. Es gab den Zeugen nicht. Es gab die Mutter nicht, die dich in deinem Bett besuchte und sich um dich kümmerte, die dich herumtrug und sich an dich schmiegte, damit die Wärme dich besänftigte. Es gibt kein Bild für meine Rettung. Es gibt kein Bild für meine Liebe. Ich kann es auch nicht malen. Es gibt kein ungemaltes Bild für meine Mutterliebe. Es gibt sie nicht. Das Bild das meine Mutter zeigt, wie sie mich liebte. Es gibt kein Bild in meiner Wahrnehmung, in meiner Realität, indem ich meine Mutter sehe, wie sie mich liebt. Ich habe keine Bilder, die so was zeigen.

Ich bin nicht Schuld für keine Liebe, die ich nicht hatte.

Das ist das beste was ich, ein Kind, sich sagen kann. Weil alle Welt, die meiste jedenfalls, der Meinung ist, dass sich ein Kind die Liebe erst verdienen muss. Die Liebe, der jedes Kind so sehr bedarf. Denn diese Angst, selbst damals schon als Kind versagt zu haben, in der ersten Zeit, dass damals schon das Kind nicht unschuldig ist, an seiner Einsamkeit und an der Lieblosigkeit, die ihm entgegengebracht worden sind, ist nicht aus diesem Kind entstanden. Die Angst des Kindes, für seine Liebe nicht genug gesorgt zu haben, ist von seinen Eltern in dieses Kind geschuldet worden. Die Schuld für sich an ihrer Lieblosigkeit, der Unfähigkeit ein Kind zu lieben, haben sie dir dem Kind verpasst, mit Schuld und Schuldesschuld versehen, damit du Kind niemals erkennen sollst, dass du nie schuldhaft warst, nie Schuld an deinen Schmerzen hattest, nie Schuld an deinen Tränen warst und nicht an deinem Zorn. Dein Weinen, jenes Kinderweinen, zeigt klar und deutlich, was dir fehlte, und was dir niemand gab. Die Unfähigkeit einer Mutter zu Lieben, ist keine Schuld. Aber durch die Leugnung der Unfähigkeit, wird dir dem Kind die Schuld an dieser Unfähigkeit zugeschoben, und bleibt nun liegen. Du musstest glauben, dass du selbst daran Schuld hattest, nicht geliebt zu werden, dass du selbst zu wenig getan hast, um die Liebe, diese Rettung für dich in deiner Not, auch zu verdienen. Als könnte ein Kind seines eigenen Glückes Schmied sein.

Als könnte ein Kind auf Glück zurückgreifen, auf Glück, das es an sich, in sich nicht gibt, und auf Hoffnung, die es nie hatte, da ihm nie jemand einen Grund dafür gegeben hat.

AM: Es ist tatsächlich unheimlich, dass von den vielen Tausenden, die um Robert Renke trauern und sich endlose Fragen stellen, kein einziger Mensch die Frage gestellt hat, was Robert Renke in seiner Kindheit erfahren musste, BEVOR er in seiner Jugendzeit so starke Versagungssängste entwickelt hat. Gab es nie eine Mutter in seinen ersten Lebensjahren? Aus den vielen Diskussionen bekommt man den Eindruck, dass er ohne eine Mutter auf die Welt gekommen sei und dass sein Leben erst im Jugendalter begann. Oder habe ich da etwas Wichtiges überhört? Da ich davon ausgehe, dass die Depression ein Leiden an der verdrängten Kindheitsgeschichte ist, kann ich es kaum fassen, dass sich in dieser Diskussion kein einziger Therapeut mit der Frage gemeldet hat, was dieser Mensch als Kind erlebt haben muss, um dies so vollständig zu verleugnen und sich so jung umzubringen.
Ich bin froh, dass Sie mit Ihren Beiträgen das Gegengewicht zu diesem eisigen Schweigen schaffen und den Besuchern hier erleichtern, den emotionalen Zugang zu den vielen nicht gehörten, nicht verstandenen und beschuldigten Kindern zu finden, die sie einst waren.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet