Die Eltern loswerden

Die Eltern loswerden
Tuesday 19 December 2006

Liebe Alice Miller,
Vielen Dank für « Das Drama des begabten Kindes », für « Am Anfang war die Erziehung » und für « Du sollst nicht merken ». Ihre Bücher habe mir Anfang der 80er Jahre geholfen zu verstehen. Ihr Bücher, Freudne und Partner haben mir in der Vergangenheit immer wieder die Kraft gegeben, mich über meine Eltern hinwegzuseetzen, sie wegzusuchieben, ihre herabsetzenden und verletzenden Kommentareauszublenden, um nach und nach und auf vielen Umwegen das Leben zu finden, welches ich mir seit meiner Jugend für mich gewünscht habe. Nach zwei Abituren, einer Ausbildung, zwei Studien, einem Jobwechsel und ein Landeswechsel lebe ich in einer glücklich und stabilen Partnerschaft, habe einen lieben Freundeskreis, meine Hunde, meine Pferde und einen tollen Job.
Und noch immer nehme ich meinen Eltern übel, dass sie mich in meiner Kindheit geprügelt haben (bis ich mich zur Wehr setzte und zurückschlug), dass ich Klavierspielen musste statt reiten zu dürfen, dass mein Vater, der zynisch und verletzend war, von mir ständig Leistung einforderte (ohne je zufrieden zu sein), nie jedoch von meiner Mutter, die aus mir ihr Abbild machen wollte, dass gutaussehende Weibchen, dass männliche Kontrolle akzeptiert. Seit meinem 12. Lebensjahr habe ich meine Eltern als ein Hindernis in meinem Leben empfunden, sie als unglaubwürdig erlebt, und wünschte mich weg von ihnen und sie weg von mir. Seit dieser Zeit muss ich immer wieder erkennen, dass sie ausser Geld mir nichts zu geben haben – und habe doch immer gehofft, dass sie ihre schizoids Verhalten und ihre Gausamkeit anerkennen, sie bedauern und sie symbolisch wiedergutmachen.
Auch wenn ich weiss, dass sie das nicht können, da es hiesse sich ihr eigenes Leben in Frage zu stellen, das Kind in mir fordert. Und da es
nie was andere gab als Geld oder geldwerte Gegenstände, habe ich Geld eingefordert als “Mass ihrer Liebe”. Und das hat sich bis heute
nicht geändert. Jetzt warte ich nur noch auf das Erbe und finde, dass sie in meinen Gedanken noch immer einen viel zu grossen Platz einnehmen. Ich will sie endlich loswerden und weiss nicht wie.
Ihnen alles Gute und nochmals herzlichen Dank. Viele Grüsse aus Frankreich , E. M.

AM: Man kann etwas loswerden, das man hat und kennt, aber nicht etwas, das einem ganz unbekannt ist. Und die Eltern, die man nie angeschaut hat, aus Angst nie anzuschauen wagte, setzen sich oft in unserer Seele und unserem Körper fest. Sie dort zu finden und sich DANN zu befreien, ist nicht einfach. Vielleicht können Sie davon profitieren, dass Ihre Eltern noch am Leben sind, und sich erlauben, sie mit den Augen der Erwachsenen zu sehen, die das Kind, das sie waren, besser verstehen will. Denn Sie scheinen von Ihrem Leiden als Kind kaum etwas zu wissen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet