Wer ist schwachsinnig?

Wer ist schwachsinnig?
Thursday 25 June 2009

Sehr geehrte Frau Doktor Miller,
obwohl ich große Angst habe das zu schreiben, möchte ich schreiben das ich “schwachsinnige Eltern“ hatte. Sie haben mir mit Ihren Worten klargemacht, warum meine Mutter mich häufig eine “schwachsinnige Göre“ genannt hat. Warum schwachsinnig? Weil ich das Wesen meiner Erziehung, die Sie als einen Machtkampf definiert haben, nicht verstanden habe.
Mir ihren Willen AUFZWINGEN, mich enthirnen, zum blinden Gehorsam abrichten, dass war das Ziel meiner Eltern und das, was sie gemeinhin unter “Erziehung“ verstanden haben. Wenn ich das nicht verstehe, dann muß ich wohl schwachsinnig sein!

Ich denke sehr einfach, spreche sehr einfach und diese Einfachheit wurde mir als “Dummheit“ ausgelegt, dass
ich das System nicht verstanden habe beschreibt ein Zeugnis indem steht das “das Lernen mir Schwierigkeiten
bereiten und es mir schwerfallen würde, das Wesentliche zu erfassen“. Erziehung wird zum Machtkampf, das
ist das Wesentliche, wenn ich das nicht erkannt habe, dann mußte ich wohl dumm sein.

“Die hat ein halbes Jahr nicht gelacht“, “Die ist irgendwie unormal“, “Mit der stimmt was nicht“ (…) hieß es ständig, also wurde ich, genau wie Sie es mir geschrieben haben zu einem “Problemkind“! Diese Sprüche haben mich meine ganze Kindheit lang begleitet, man begegnet mir oft mit Verachtung aufgrund meiner “einfachen Sichtweise“, gegen die ich mich jetzt aber zur Wehr setze. Ich stehe zu meinem Wesen, auch wenn ich dafür abgelehnt werde.

Dann griffen meine Eltern zu einer strengeren Disziplin, jede “Verfehlung“ wurde zu einem “Verbrechen“, es gab immer mehr Bestrafung. Ich halte mich heute (pedantisch!) an jede Regel, einen Fahrerwechsel auf einem Parkplatz für Busse – für mich unmöglich – ich fahre natürlich hierfür auf einen PKW Parkplatz. Wut und Spott
von den Beifahrern das “ich immer so genau sein muss“, ich bin eben “merkwürdig“, “unnormal“(…) folgten. Mein Verhalten macht aber Sinn, wenn ich es im Kontext meiner Kindheit betrachte, die Angst vor Strafen
hält mich in Schach, das verinnerlichte System meiner Kindheit!

Ich danke Ihnen und den Verfassern der Leserbriefe aus tiefstem Herzen für Ihre Ehrlichkeit und die große Geste, mich an Ihrem Wissen und Ihren Lebenserfahrungen teilhaben zu lassen, die es mir ermöglichte, einen
Teil der Verwirrung zu beheben.ML

AM: Welches Glück, dass Sie sich erlauben, einfach, das heisst logisch zu denken, und sich nicht von den Lügen der machthungrigen Eltern verwirren zu lassen. Aber Sie sehen, wie lange die Angst überleben konnte, Sie schreiben noch am Anfang Ihres Briefes, dass es Ihnen angst macht, den Schwachsinn Ihrer Eltern zu sehen und zu benennen. Weil dies SO FRÜH verboten war. Nun wird Ihr Sohn nicht darunter leiden müssen, weil er bei Ihnen lernt, seinen Gefühlen zu vertrauen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet