Entlastung auf Kosten der Kinder

Entlastung auf Kosten der Kinder
Saturday 03 June 2006

S.g. Frau Dr. Alice Miller

Wie erklären Sie sich, dass bei Eltern, die Ihre Kinder in der von Ihnen beschriebenen Art und Weise schädigen , sodass es zu verschiedenen psychischen bzw. psychosomatischen Beschwerden kommt, diese Beschwerden u.U. nicht auftreten?
Es anzunehmen, dass Eltern, die wichtige Bedürfnisse bei ihren Kindern nicht respektieren, dies auch bei sich selbst nicht tun. Welcher „Mechanismus“ aber bewahrt nun die Eltern davor, nicht auch jene Beschwerden oder Krankheiten zu bekommen, wie u.U. ihre Kinder?
Möglicherweise bewirkt das Bekämpfen der Bedürfnisse der Kinder (Bedürfnisse, die Eltern bei sich selbst nicht zulassen können) eine gewisse psychische Stabilisierung und durch die Aggressionsabfuhr, die mit dem Bekämpfen verbunden ist, eine Entspannung, was schließlich eine Beschwerdebildung verhindert. Oder Eltern übertragen bzw. projizieren eigenes erlittenes Unrecht aus ihrer Kindheit auf ihre Kinder, sodass die Kinder quasi als Sündenböcke Unmut und Aggressionen der Eltern auf sich nehmen, was bei den Eltern wiederum zu einer Entlastung und Verhinderung von Beschwerden führt.
Wie sehen Sie das? Wie würden Sie den „Mechanismus“, genau erklären?

Mit freundlichen Grüßen
MG

AM: Sie haben die richtige Antwort selber gefunden. Die meisten Menschen bedienen sich ihrer Kinder, um den Folgen ihrer tragischen Kindheit aus dem Wege zu gehen. Sie idealisieren ihre Eltern und Ahnen und fügen ihren Kindern das gleiche Leid zu, dem sie als Kinder ausgesetzt waren. Der Brauch der Beschneidung zum Beispiel zeigt dies sehr deutlich. Auch andere, oft sadistische Bräuche, die man mit großem Respekt für die Eltern und die Tradition ausübt, haben lediglich das Ziel, die einst erlittenen und verdrängten Traumen an den eigenen Kindern abzureagieren. Mehr als 90% der Weltbevölkerung schlägt ihre Kinder mit dem besten Gewissen, sieht darin nichts Schlimmes, nur weil sie selbst geschlagen wurde. Sehr wenige Menschen entscheiden sich, diese legale Form der Destruktivität (Erziehung genannt) abzulehnen und sich dem Leiden ihrer Kindheit zu stellen, um es eben nicht unbewusst an die nächste Generation weiterzugeben.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet