Die glückliche Befreiung

Die glückliche Befreiung
Monday 02 March 2009

Liebe Alice Miller,

ich schreibe Ihnen nun das dritte Mal und bedanke mich bei Ihnen für Ihre -und
das meine ich wortwörtlich- nahrhafte Antworten.
Mein erster Frühling in der Freiheit… Ein dritter Tag, genauer gesagt, ganz
ohne den Giftschläuchen und den Zapfhähnen. Alles weg.
Kontakt mit meiner Großmutter-beendet
Kontakt mit meiner Verwandtschaft – beendet
Kontakt mit meiner Mutter-beendet
Kontakt mit der Familie meines Vaters (die Sehnsucht des verleugneten
unehelichen Kindes ließ mich bluten: „Irgendwo wartet eine liebende
Familie auf mich.“)-beendet
Kontakt mit meinen Halbgeschwistern*-beendet
Dieses war der letzte nötige Schritt vor drei Tagen.
Na, und was?! Keine Schläge! Ich stehe aufrecht auf dieser Erde, ich sehe
meine Umwelt mit einem wachen Blick genau an….und dafür keine Strafe.
Es ist vorbei, ganz vorbei!

Ich studiere jetzt das Schreiben. Ich wusste doch schon als, was ich will. Ich
durfte mich daran erinnern, dass ich Bücher schreiben und mit Fotos und
Bildern illustrieren will. So einfach, so schlicht, so glücklich. So ich!

Keine heißen Kartoffeln aus dem Feuer mit kleinen wunden Händchen für meine
ängstige, ausgehungerte und zornig fordernde Mutter mehr holen, während der
Rauch meine Augen und Lunge zerfrisst! Als Kind sah ich, dass ich es einfach
nicht schaffe, sie satt und glücklich zu machen. Sie wollte immer mehr und
mehr!
Das Versagen war so furchtbar, dass ich immer auf der Suche nach Menschen war,
die ihr ähnlich waren, um wenigstens bei denen Erfolg zu haben: „Diesmal
werde ich nicht versagen!“ Es ist so grausam, dass ich gerade bei den
bedürftigen und hungrigen nach Essen und Wärme suchte! So absurd: unbewusst
hoffte ich, dass sie mich wärmen und nähren werden sobald ich die satt, gesund
und glücklich gemacht hatte.
30! Jahre! meines! Lebens! habe ich bei keinem dieser Manschen es geschafft.
Jetzt WEISS ich es, dass ich nicht versagt habe!
Deswegen MUSS ich NICHT mehr, es NOCHMALS zu versuchen.

*Und meine Halbgeschwister ? Als sie geboren wurden, war ich 6-9 Jahre alt und
bereits durch meine Mutter parentifiziert und meine gewohnte Last hat sich
lediglich vergrößert. Sie sind jetzt erwachsen, wohnen bei der Mutter und sind
als ihre Versteher und Anwälte tätig, wie auch ich einst. Mit Ach und Krach
probieren sie mich in das System zurückzuzerren. Ich probierte über mich zu
erzählen, zurück kam aber „das Übliche“, was Menschen, mit
Galoschen auf den Ohren und Tomaten in den Augen, sagen (wie auch ich einst).
Merkwürdig: Es fiel mir auf, dass solche Menschen und in Deutschland, und in
meinem Heimatland DIESEBEN Sätze sagen. Verschieden Sprachen-dieselbe Sätze!
Warum? Weil die ANGST eine internationale Sprache ist!

Warum konnte ich erst jetzt -oder endlich?- diese „Beziehung“
beenden?
Ich fragte mich -nachdem in den Kontakt mit der Mutter beendete-, was die von
mir wollen? Wohl eine falsche Frage, wenn keine Antwort auf sie mir half.
Vor paar Tagen fragte ich mich ÄNGSTLICH, was ich von denen will. Was will ich
von denen, wenn ich die Beziehung zwar auf einer Sparflamme aber immer noch
köcheln lassen? Ich reagierte immer aber AGIEREN nach meinen Bedürfnissen
KONNTE ICH NICHT, wenn die gute Laune meiner Halbgeschwister „in Gefahr
war“.
Was will ich von denen? Die Antworten kamen aus mir heraus, sobald ich also die
RICHTIG gestellt hatte:
-Ich werde sehr bald alt sein. Wenn ich alt bin, werde ich arm, krank und
EINSAM sein. Deswegen muss ich jetzt gut zu meinen Geschwisterchen sein,
weil wenn ich alt bin, werden sie jung und reich sein. Ich werde von ihrer
Großzügigkeit abhängig sein, und sie werden sich daran erinnern, ob und wie
ich für sie gut sorgte.

Liebe Frau Miller,

ich habe geweint. Das war die ANGSTVOLLE Antwort des kleinen, überforderten
Mädchens, das ich war! Es waren die wahren Gefühle: Angst, Angst und Angst.
Die zwei Szenen dazu:

1) Ich bin ca. 7 und stehe damals in der Omas Küche und fluche, dass ich nicht
dauernd auf die Geschwister und Kusinen aufpassen will. Ich will mit meinen
Freunden SPIELEN! Diese Hexe trichtert mir die o.g. Antwort sehr überzeugend
rein! Ich denke nach und glaube ihr. Ich weis es nicht, „wie bald“ ich
alt und von diesen Kleinkindern abhängig bin. Diese Lügnerin! Sie hat soviel
Lorbeeren bekommen, weil sie soviele Enkeln bis zur Schule großgezogen hat. Das
stimmt nicht! Das war ich!

2) Später stelle ich meine Mutter zur Rede: „Ich muss auf die aufpassen.
Wenn die so alt sind, wie ich, müssen die auf niemanden aufpassen. Auch jetzt
müssen die auf niemanden aufpassen, und ich musste, als ich so alt war wie sie
jetzt. Es ist ungerecht!“
Da versprach die Mutter mir, dass meine Halbgeschwister meine Kinder hüten
werden. Als Lohn.

Meine Mutter lobte mich, eine Sechsjährige, dass ich wunderbar zuverlässige
Schwesterchen-Hüterin bin! Neh, mich lobte sie nicht, sie prahlte vor jemanden,
dass sie so tolle Tochter hin-gekriegt hat, und ich hab´s gehört. Es ist so
furchtbar: sie hat mich missbraucht! Mich als Material ge- und verbraucht!
Durch das Kinderhüten verlor ich Anschluss an die Gleichaltrige bereits mit
dem 6. Lebensjahr: Spielen, Freundschaft, Pubertät.

Aus Angst, von der Mutter ERSCHLAGEN zu werden, aus Angst es mit „den
Gönnern von morgen“ zu verscherzen, ließ ich die Anzapfstellen für meine
Halbgeschwister an, auch die Paar Giftschläuche. So wäre die Omas Prophezeiung
in Erfüllung gegangen: meine Geschwister sind bald mit Studium fertig und haben
dann saftige Berufe, währen ich WARTE beim Frieren und Hungern….

Danke, Alice!

Jetzt bin ich frei und begrüße meinen ersten Frühling: mit Sonne, Regen,
Wind, Blitz, Donner, Regenbogen und allem, was mein kostbares Leben so mit sich
bringt!

Viele Grüße, M.P.

AM: Ich kann Ihnen nur gratulieren, dass Sie sich von dieser unheimlichen Heuchelei befreien konnten und jetzt Ihr Leben genießen können. Dem Kind zu sagen, wenn du alt und arm bist, werden die jungen reichen Geschwister dir dafür danken, dass du jetzt für sie sorgst, ist völlig grotesk, aber für ein Kind undurchschaubar. Es wird gezwungen, Heuchelei und Berechnung zu lernen. Wie gut, dass Sie dies jetzt durchschauen und diesen furchtbaren Ballast loswerden können.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet