Träume statt Erinnerungen
Saturday 05 August 2006
Sehr geehrte Frau Miller,
sehr geehrtes Team –
intensiv habe ich all Ihre Bücher mehrfach gelesen – besonders Ihr letzes über die im Körper gespeicherten Erinnerungen. Nun habe ich aber immer Mühe gehabt, mich an meine Kindheit zu erinnern. Es gibt nur wenige Szenen aus der Zeit vor meiner Pubertät, die mir bewußt sind. An konkrete Mißbrauchshandlungen kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern.
Dafür aber an schreckliche Träume, die mich oft jahrelang verfolgt haben.
Meinen “ältesten Traum” hatte ich noch im Kindergartenalter: er handelte von einem kleinen Mädchen, das Blumen pflückend von der ganzen Weltkugel überrollt wurde. Ich hatte die Aufgabe dieses Mädchen zu schützen und ihm das Leben zu retten – das konnte mir als kleinem Jungen natürlich nicht gelingen. Jedesmal wachte ich schweißgebadet und voller Angst auf. Diesen Traum hatte ich bereits, als ich mich noch kaum artikulieren konnte und er verfolgte mich bis in meine Pubertät.
Dann wurde er regelrecht abgelöst von einem zweiten Traum, der mich bis heute immer wieder heimsucht: ich muß ein sterbendes Kind retten; versuche, es ins Krankenhaus zu bringen. Aber all meine Versuche scheitern: das Telephon zerbricht unter meinen Händen; wenn ich es doch geschafft habe, zu wählen, bin ich falsch verbunden. Oder es kann kein Krankenwagen kommen. Ich schleppe das sterbende Kind durch die Straßen zum nächsten Krankenhaus – kein Mensch hilft mir; am Krankenhaus werde ich abgewiesen weil man überfüllt sei – usw. – In immer neuen Varianten habe ich diesen Traum seit rund drei Jahrzehnten. Seine letzte Variante war die grausamste: es ist Winter zur Zeit des ersten Weltkrieges. Ich bin mit einem kleinen Trupp Soldaten in einen verschneiten Stall geflüchtet. Wir alle fürchten uns vorm Morgen und wir werden ihn nur erleben, wenn es mir gelingt – ich bin ein Offizier und/oder Arzt – einen Verwundeten am Leben zu erhalten. Dem Mann fehlt jegliche Haut: ein blutiger Leib liegt auf dem kalten Stroh…
Dies sind immer wiederkehrende Träume, die mich mein Leben lang begleiten. Nach der Lektüre Ihrer Bücher zermarterte ich mir mein Hirn nach Erinnerungen an meine Kindheit; aber wie gesagt, nicht die kamen, sondern jene alten und neue extreme und metaphorische Träume:
Im ersten wollten mich meine beiden Eltern – obwohl ich mich sträubte – in einen Zug setzen, in dem es nur geifernde Raubtiere gab, die mich bedrohten. Ich konnte unter größter Angst entweichen und einen anderen Zug nehmen. Doch als der am Zielbahnhof ankommt, warten bereits meine Eltern auf mich, um mich wieder in den Raubtierzug zu verfrachten.
Auch im zweiten Traum tauchen Raubtiere, Löwen und Tiger auf: ich sitze mit meinem Vater in einem Tigerkäfig. Er ist nur noch ein Häufchen Elend und schlottert vor Angst; ich soll ihn beschützen, das erwartet er von seinem Sohn, der soll jetzt für ihn da sein. Ich weiß, daß ich das nicht kann – aber ich habe auch schon eine Ahnung, daß ich das nicht will…
Der dritte und letzte Traum schließlich ist für mich ungeheuerlich – man könnte meinen, soetwas könne man nicht mal erfinden – aber ich bin dabei schreiend und schweißgebadet aufgewacht: In diesem Traum sehe ich meine Mutter und meinen Vater wie sie gemeinsam mit ihren Händen das Geschlechtsteil meines Vaters zu einer blutigen Masse zerdrücken. Dann senken sie mir dieses blutige zerstörte Geschlechtsteil in meinen Brustkorb anstelle meines Herzens. Danach bleibt nur noch ein Gefühl abgrundtiefer Einsamkeit, des Ekels und ein Gefühl der tiefsten Scham. Ich fühle mich gezeichnet – und glaube, daß es deswegen nur gerecht ist, daß ich ein einsames Leben führe, daß Menschen nichts mit mir zu tun haben wollen, weil ich so schmutzig bin innen; weil ich diese schmutzig-schleimige blutige Masse in mir habe.
Bei keinen meiner Therapieversuche habe ich mich jemals getraut, diese Träume zu erzählen, bis auf den Kindertraum. Doch der wurde jedesmal als üblicher Alptraum eines Kindes abgetan, das Angst hatte vor dem Dunkel und der noch unbekannten Welt.
Diese Träume aber kamen mir in den letzten Monaten immer wieder drängend ins Bewußtsein, überfielen mich im Schlaf und waren Erinnerungen am Tag.
Besonders nachdem ich die “Revolte” gelesen hatte.
Natürlich sind es jedesmal Szenarien der Überwältigung, der Unterdrückung, der Angst und der Verzweifelung. Ich möchte sie so gerne einordnen und sie realen Erinnerungen gegenüberstellen. Ich glaube, das würde mir auf meinem Weg enorm weiterhelfen.
Darf ich Sie, geehrte Frau Miller, um einen Rat bitten – ich weiß, daß es sich um ungeheure Träume handelt, die man lieber für sich behält – aber sie belasten mich außerordentlich; ich kann kaum meinen Alltag durchhalten, weil ich immer wieder daran denken muß.
Für einen Fingerzeig wäre ich dankbar –
Mit allerbesten Grüßen – W.B.
AM: Sie schreiben: “An konkrete Mißbrauchshandlungen kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern. Dafür aber an schreckliche Träume, die mich oft jahrelang verfolgt haben.” Doch Ihre Träume SIND Ihre Erinnerungen. Sie erzählen Ihnen ja in einer nahezu genialen Weise, und mit einer Eindeutigkeit wie sie selten anzutreffen ist, was Sie als total abhängiges Kind gnadenlos ertragen mussten, was Sie aber Jahrzehnte lang auf keinen Fall wissen wollten (keine Misshandlungen!!!). Im Gegensatz zu Ihrer Behauptung erzählen Ihre Träume hartnäckig von der ständigen Bedrohung, der grenzenlosen Überforderung und dem nicht enden wollenden Betrug. Sie brauchen keine konkreten Szenen mehr zu suchen, denn Ihr Körper weiss offenbar alles. Was Ihnen fehlt, ist das Mitgefühl mit dem kleinen Jungen, der die Eltern auf Kosten des eigenen Lebens (der echten Gefühle) hätte retten sollen. Es fehlt Ihnen die bodenlose Empörung über die Eltern, die ihrem Kind unbedingt ihre offenbar schweren Perversionen anhängen wollten und sein Herz zu entfernen suchten.
Doch nun scheinen sich Ihre echten Gefühle doch noch zu regen (die Wut und der Ekel), wenn auch leise, zögernd und ängstlich (nicht ohne Grund natürlich), aber authentisch. Und damit gewinnen Sie die Chance des Erwachsenen, Ihr eigenes “Herz” zurückerobern zu können. Schon mit diesem Brief verlassen Sie die Einsamkeit und das aufgezwungene Schweigen; Sie teilen sich andern, empathischen, Menschen mit und verlassen auch den Nebel und die Verleugnung, in denen das betrogene Kind trotz seiner Intelligenz leben musste. Sie beginnen Ihr Leben im klareren Licht zu sehen, dank Ihren Träumen.
In meinem letzten Artikel über die Ursachen des Leidens finden Sie vielleicht die Unterstützung und Ermutigung zu diesen neuen Schritten.