Ohne Antidepressiva

Ohne Antidepressiva
Sunday 22 January 2006

Aus der französischen Leserpost:
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Guten Tag,

ich schreibe Ihnen auf Ihre Antwort, die Sie mir freundlicherweise zukommen ließen. Ich möchte Ihnen über eine positive Entwicklung meiner Verfassung berichten, die nach der Lektüre Ihres Buches [„Die Revolte des Körpers“] eingetreten ist. Das Buch hat sehr aufklärend auf mich gewirkt. Darüber hinaus ist meine Therapeutin eindeutig eine Person, die Sie einen „Wissenden Zeugen“ nennen. Ich kann Ihnen beiden nicht genug danken.

Tatsächlich habe ich die Einnahme von Antidepressiva vor ungefähr zwei Wochen beendet. Das Ergebnis? Ich spüre wieder die Gefühle. Das ist beeindruckend. Die ersten Nächte waren sehr schwierig. Ich hatte natürlich größte Schwierigkeiten einzuschlafen, aufgrund eines nicht zu beherrschenden Juckreizes. Ich hatte Albträume, in denen mein Kopf hinten überfiel. Ich wachte verschwitzt und schreiend auf. Diese Empfindung (dass der Kopf nach hinten fällt) verglich meine Therapeutin mit der Erfahrung eines Babys, dessen Kopf nicht gestützt wird, was eine tiefe Angst auslösen kann. Dieses Bild erschien mir sehr klar und hat auch Erinnerungen des Kindes wieder belebt, wo diese Empfindung sich ereignete und mich schrecklich ängstigte. Kurz, diese ersten Tage ohne die Medikamente waren nicht leicht zu überstehen. Und das ist wenig gesagt.

Diese schwierigen Nächte scheinen vorüber zu sein. Zugleich empfinde ich positive Gefühle viel intensiverer Art als in der Vergangenheit. Ich empfinde einen außerordentlichen Lebensdurst. Ich habe Lust, mir jede Menge Dinge zu erfüllen, an denen mein Herz hängt (Musik, Tanz, Zeichnen, Kochen, Ausgehen), Aktivitäten, die ich seit langem vollständig aufgegeben hatte. Und ich lache aus vollem Herzen. Ich habe den Eindruck, dass ich mich auf den Weg mache, dass alles sich schrittweise richten wird. Ich bin mir bewusst, dass ich immer noch sehr zerbrechlich bin und dass die geringste Verärgerung mich destabilisieren kann, aber ich finde in mir die Kraft, der Angst zu widerstehen, und wie durch ein Wunder scheinen die Stresssituationen sich auf natürliche Weise zu erholen. Dank der Arbeit meiner Therapeutin und Ihres Buches habe ich endlich die Augen geöffnet. Ich bin nicht einfach nur überzeugt von der Wahrheit Ihrer Worte, ich bestätige alles, was Sie in „Die Revolte des Körpers“ sagen. Von nun an achte ich viel mehr auf die Botschaften meines Körpers. Ich fange endlich an, mich kennen zu lernen. Um es zusammen zu fassen: Ich weiß, dass ich auf dem richtigen Weg bin, dass diese Arbeit noch lange nicht beendet ist, obwohl ich es jetzt schaffe, mir eine Antwort auf viele meiner existentiellen Fragen zu geben.

Danke, S.

AM: Ich danke Ihnen für Ihren so wichtigen Brief und beglückwünsche Sie, den Mut und die Klugheit zu haben, die Medikamente wegzulassen und zu sehen, welches Leiden sich hinter diesem von den meisten Menschen gesuchten und geschätzten Gift verbirgt.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet