Die Türen öffnen

Die Türen öffnen
Sunday 23 October 2005

Sehr geehrte Frau Miller

schon lange, seitdem ich von Ihnen und Ihren Büchern gehört und die ersten Bücher gelesen habe, hatte ich das Vorhaben, Ihnen zu schreiben. Das ich es bis jetzt nie getan habe, habe ich mit der Ausrede erklärt, nie Zeit gehabt zu haben. Nun bringt mich diese Ausrede nicht mehr weiter, denn nun habe ich Zeit und somit die Chance, Ihnen zu schreiben und mich noch mehr mit meinem Leben auseinander zu setzen.

Seit 10 Tagen befinde ich mich in einer Kurklinik für psychosomatische Erkrankungen. Es hat lange gedauert, bis ich diesen Weg gegangen bin, bis ich überhaupt begriffen habe, daß er notwendig ist.

Das therapeutische Konzept dieser Klinik ist die Gruppentherapie. Das hat mich anfangs ein wenig beängstigt und ich habe auch noch nichts über meine “Geschichte” erzählt, aber ich weiß, daß der richtige Zeitpunkt kommen wird. Ich habe ein gutes Gefühl bezüglich der 2 Therapeutinnen die mit uns arbeiten.

Ich mache bereits seit ca. 1,5 Jahren eine Verhaltenstherapie, von der ich aber inzwischen behaupte, daß sie mir nichts mehr bringt. Dieses Gefühl sollen ja oft Patienten haben, die vor der Entscheidung stehen, ob sie tiefer gehen sollten oder nicht. Ich weiß von mir sehr genau, daß ich tiefer gehen möchte, daß ich alles ausgraben möchte, was in den Tiefen meiner Seele verborgen liegt. Aber ich habe das Gefühl, daß mein Therapeut diesen Weg mit mir nicht gehen wollte.

Durch Ihre Bücher ist mir klar geworden, daß es wichtig ist, in dieser Zeit einen Begleiter zu haben. Diesen habe ich gefunden,als ich letztes Jahr meinen Freund kennenlernte. Er hat mich auf Ihre Bücher aufmerksam gemacht und mir gezeigt, wie wichtig es ist, über meine Vergangenheit zu reden.

Nun möchte ich Ihnen davon erzählen.

Ich bin als jüngstes von 3 Kindern auf die Welt gekommen. Schon vor meiner Geburt war die Ehe meiner Eltern bereits zum Scheitern verurteilt. Mein Vater hatte zu dieser Zeit ein Verhältnis zu einer “abhängigen Minderjährigen” und hat sich nicht besonders viel um meine schwangere Mutter gekümmert. Als ich 15 Jahre alt war, erfuhr ich durch einen Zufall, daß mein Vater am Tag meiner Geburt das erste Mal mit diesem Mädchen geschlafen hatte. Seitdem ist dies ein Zeichen der Ablehnung seitens meines Vaters, das ich nicht mehr ablegen kann.

Getrennt haben sich meine Eltern erst, als ich 10 Jahre alt war. Ich entschied mich damals, als einziges der Kinder bei meinem Vater zu bleiben. Er tat mir leid, weil alle ihn verlassen wollten und ich war der Meinung, daß ich ihn schützen müßte. Abgesehen davon lockte mich aber auch der Gedanke, endlich mal Einzelkind zu sein, die ungeteilte Aufmerksamkeit meines Vaters zu bekommen und vielleicht endlich das Verhältnis zu ihm zu bekommen, das ich mir immer gewünscht hatte. Das ich mich da getäuscht hatte habe ich erst viel später gemerkt.

Wenn mein Vater sich in dieser Zeit einsam fühlte, fragte er mich , ob ich vor seinem Bett schlafen könnte, daß er nicht so einsam sei. Ich tat es.

Ich versuchte auch so gut es ging, mich neben ersten hauswirtschaftlichen Tätigkeiten einigermaßen um meine schulischen Leistungen und soziale Kontakte zu bemühen, aber etwas kam immer zu kurz.

In der Zeit, die ich bei ihm verbrachte, machte mir mein Vater etliche Versprechungen die er selten eingehalten hat.

Hat etwas nicht so geklappt wie er das wollte, sei es der Haushalt oder die Schule, strafte er mich gerne mit Liebesentzug oder vernichtenden Worten. Bei 1,69 Körpergröße und 52 Kilo glaube ich auch heute noch, daß ich zu dick und zu häßlich sei, weil er es mir jahrelang erfolgreich eingeredet hat.

In all den Jahren hat er sich nie aufrichtig dafür interessiert, wie es mir geht, was ich fühle. Und weil ich Angst vor ihm hatte, habe ich nie gelernt, meine Bedürfnisse zu formulieren und auszusprechen, was mir mein Leben heute oft sehr schwer macht.

Als ich dann erfuhr, was am Tage meiner Geburt geschehen ist, bin ich in einer Nacht und Nebelaktion still und heimlich zu meiner Mutter gezogen. Das hat er mir nie verziehen. Er hat über ein Jahr nicht mit mir gesprochen und mal wieder auf eine widerliche Art und Weise gestraft.

Mit der Zeit hatte sich das Ganze wieder beruhigt. Bei meiner Mutter habe ich bis zu meinem 18 Lebensjahr gewohnt und bin dann für eine kurze Zeit in eine andere Stadt gezogen. Als ich eine Lehre in meiner Heimatstadt beginnen wollte, mußte ich leider wieder zu meinem Vater ziehen. Meine Mutter hatte keine finanziellen Möglichkeiten, mich zu unterstützen und mein Vater weigerte sich, mir ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft zu zahlen, weil er der Meinung war, in seinem Haus sei genügend Platz.

Noch heute behauptet er, er hätte mir eine Ausbildung finanziert, obwohl ich damals mehr Geld als nötig bei ihm abgegeben habe und er nur finanzielle Vorteile davon hatte, daß ich bei ihm lebte.

Seine Reaktion zu meiner Berufswahl fiel im übrigen so aus, daß er mit einer Faust auf den Tisch schlug und sagte:” Eine Akademikertochter kann doch keine Friseurin werden!!!”

Ich mag meinen Beruf, aber dennoch schäme ich mich immer wieder dafür, besonders vor meinem Freund. Ich kann mich nicht damit identifizieren, habe Angst, dazu zu stehen, weil Friseure oft als dumm abgestempelt werden.

Als ich nach der Ausbildung mit meinem ersten langjährigen Freund zusammenzog ( der übrigens 14 Jahre älter war als ich… ), passierte schließlich das, was mein Leben veränderte.

Eines Tages stand dieser Mann nur in einem Unterhemd bekleidet vor mir. Ich bekam Beklemmungen und eine mir unerklärliche Angst. Seit diesem Tage kamen mir Bilder vor Augen die ich nicht richtig einzuordnen wußte. Ich sah meinen Vater nur mit einem solchen Unterhemd bekleidet vor mir und empfand den Anblick seines Penis als gefährlich und erschreckend. Von nun an gab es zwischen meinem Freund und mir kaum noch sexuelle Handlungen. In dem Jahr bevor wir uns trennten, habe ich 1 Mal mit ihm geschlafen.

Immer intensiver wurden die Bilder die ich nachts von meinem Vater sah und nach und nach kamen Erinnerungen an gemeinsame Mittagsschlafzeiten im dunklen Klavierzimmer zurück, in denen ich ihn sagen hörte:” mach die Augen zu und denk an was Schönes”… Auch jetzt kann ich diese Träume nicht richtig deuten, weiß nicht, ob da je ein sexueller Übergriff stattgefunden hat. Aber plötzlich kam eine Erinnerung von der ich weiß, daß das wirklich passiert ist. Ich erinnerte mich daran, daß mein Vater irgendwann zum allabendlichen “Gute Nacht”sagen meiner Schwester und mir beim Küssen seine Zunge in den Mund steckte und dabei spielerisch sagte:”Befruchtet”.

Ich weiß heute nicht mehr, wie ich mich damals gefühlt habe, was das in diesen Momenten mit mir gemacht hat. Aber heute empfinde ich Ekel und Abscheu. Und Wut! Wut darüber, daß er sich immer geweigert hatte, mir zu geben was ich als Kind so sehr bebraucht hätte, Liebe, Aufmerksamkeit, Anerkennung. Aber er hat sich genommen,was er brauchte, was er wollte und hat dabei so klar meine Grenzen überschritten.

Inzwischen weiß ich, daß er das Gleiche auch bei meiner jüngeren Cousine versucht hat. Und ich weiß auch, daß ein Teil der Familie gesehen hatte was passiert ist, auch meine Mutter und eine Freundin meiner Mutter. Aber niemand war in der Lage, etwas zu sagen. Einige hielten das wohl nicht für allzu schlimm, andere trauten sich vielleicht nicht. Mein Vater ist Theologe und ich vermute, daß manche Leute der Meinung waren , daß er auf diese Art seine Zuneigung zeigen will. An sexuellen Mißbrauch hätten die Meisten bei einem Mann mit diesem Beruf sicher nicht gedacht. Für mich ist es das inzwischen ganz klar. Das schlimme ist für mich nun, daß ich mir im Kopf so klar über all diese Dinge bin, daß ich aber von ” der Wahrheit noch meilenweit entfernt” bin, wie Sie es in “Abbruch der Schweigemauer” beschreiben, weil ich nicht an meine Emotionen herankomme. Ich kann all das ohne Probleme immer und immer wieder erzählen, aber es macht nicht viel mit mir. ich habe noch nie deswegen geweint, weder bei meiner Therapie noch bei Freunden. Das einzige Mal, das Emotionen an die Oberfläche kamen, war eine Massage, die mein Freund mir gab ( er praktiziert Körpertherapie ), die mich in Verbindung mit all den Erinnerungen brachte und mich hemmungslos weinen ließ.

Aber seitdem kann ich keinen Fortschritt erkennen. Ich habe das Gefühl, all das in einer festverschlossenen Blase in meinem Körper aufzubewahren aber aus Angst vor den Konsequenzen keine Gefühle an die Oberfläche zu lassen.

Das Interessante ist, das mein Körper vor gut 2 Jahren angefangen hat mit mir “zu sprechen”. Ich habe eine Reizblase und möchte wann immer und wo immer es geht Wasser lassen. Mit Vorliebe dann, wenn ich keine Toilette zur Verfügung habe. Dieses Verhalten gíbt mir das Gefühl, als müßte ich meine Grenzen abstecken, “bepinkeln” wie ein Hund, der ganz klar zeigt, wo sein Revier ist!

Und seit einem Jahr nun, seitdem ich mit meinem Freund zusammen bin, kamen ständig wiederkehrende Blasenentzündungen dazu. Meist nach Geschlechtsverkehr, den ich inzwischen wieder genießen konnte, aber nun macht mir die Angst vor einer erneuten Entzündung jedesmal wieder Angst. Der Vorteil diesbezüglich ist, daß wir uns nicht so häufig sehen, da wir in weit voneinander entfernt wohnen.

Ich weiß daß da etwas in mir steckt, das raus will, aber ich weiß nicht genau was. Und vor allem weiß ich nicht, wie ich es rauslassen kann. Ich habe schon so viele helfende Hände gefunden, Menschen die für mich da sind, die mir zuhören und meine Wut ( die einzige Emotion die ich wirklich formulieren kann ) verstehen, aber dennoch fühle ich mich wie ein Eisblock in dem tief drinnen ein Geheimnis verborgen ist.

Aber ich weiß, daß diese meine Geschichte die Lösung für mein gesundheitliches Leiden der letzten 2 Jahre verborgen hält. Und ich weiß auch , daß ich eines Tages diese Lösung finden werde, vielleicht mit Hilfe eines guten Therapeuten, oder eines Freundes.

Dankbar bin ich jedenfalls, meinem Freund begegnet zu sein, der mein wissender Zeuge war und ist, der mir die Augen für bestimmte Wege geöffnet und Möglichkeiten gezeigt hat. Und dankbar bin ich ihm, daß er mir Ihre Bücher empfohlen hat, die mir aus schwerern Zeiten geholfen haben und die ich an alle die es interessiert weiterempfehle.

Würde es mehr Menschen geben die so denken wie Sie, würde es sicher weniger Missbrauch, Nichtachtung und Verwahrlosung an Kindern geben. Es ist schade, daß vielen Menschen und leider auch vielen Therapeuten dieses Bewußtsein noch fehlt.

Ich danke Ihnen, daß Sie sich die Zeit für meine Geschichte genommen haben und daß Sie den Mut und die Kraft hatten, mit Ihren Büchern ein Tabuthema anzusprechen um damit vielen Menschen zu helfen.

Mit herzlichen Grüßen S

P.S. Wenn Sie möchten, können Sie den Brief gerne veröffentlichen, nur bitte nicht unter meinem Namen.

A.M.: Ihr klarer und ehrlicher Brief zeigt, dass Sie alle Schlüssel zu Ihrer Situation und zu Ihrer Befreiung in der Hand halten, aber Sie haben noch Angst, die Türen zu öffnen. Kein Wunder, nach allem, was Ihnen geschehen ist. Ich hoffe, dass Sie einen Zeugen finden, der Sie zu Ihren Gefühlen begleitet und Ihnen Mut machen wird, den Weg, auf dem Sie sich schon befinden, nicht zu verlassen. Mein letzter Artikel “Aus dem Gefängnis der Schuldgefühle” kann Ihnen vielleicht diesen Zeugen ersetzen, bis Sie ihn finden. Lesen Sie auch die FAQ Liste, falls Sie neben der Gruppe auch noch eine Einzeltherapie machen wollen. Mein Buch “Die Revolte des Körpers” könnte Ihnen vielleicht einige Umwege ersparen. Ich wünsche Ihnen viel Glück!

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet