Der Kampf mit der Lüge
Thursday 16 April 2009
Liebe Alice Miller,
ich möchte Ihnen von ganzem Herzen für Ihre Arbeit danken. Erst Ihre Bücher und auch Ihre Website haben
mir ermöglicht, mich selbst kennen- und verstehen zu lernen und nach und nach immer mehr mein eigenes Leben führen zu
können.
Zur Zeit beschäftigt mich meine berechtige Wut und mein Umgang damit, das möchte ich Ihnen gerne schildern.
Vorab möchte ich – nur kurz, das würde sonst den Rahmen sprengen – etwas von mir und der Tragödie meiner Kindheit erzählen.
Ich bin das Ergebnis des ersten sexuellen Abenteuers meiner Mutter (17 J.) und meines Vaters (20 J.). Ich war ein ungewolltes,
gehasstes, missbrauchtes und gequältes Kind. Von Anfang an. Meine Eltern haben mit im Haus meines Vaters gewohnt.
Gesagt wurde mir, dass ich geliebt würde, dass ich so dankbar und froh sein müsste, in dieser Familie zu sein, keinem
anderen Kind auf der Welt würde es so gut gehen wie mir, ich hätte auch Glück, denn in anderen Familien würden so
Kinder wie ich nicht so gut behandelt. Da würde ich mein blaues Wunder erleben.
In Wirklichkeit war ich das „Es“, das Objekt, an dem sich vier erwachsene sadistische Verbrecher mit ihrem ganz unter-
schiedlichen Hass und ihren Gelüsten ausgetobt haben. Meine Mutter war eher gleichgültig, hat mich wie ein Tierchen
betrachtet, dem sie nicht zur Hilfe stand, dem sie aber ihre Eheprobleme erzählen konnte. Mein Opa nannte mich immer
sein liebstes, war aber die meiste Zeit betrunken in Kneipen unterwegs, hat seinen „Humor“ vor jedermann dargestellt, indem
er mich vor anderen Leuten lächerlich gemacht und gedemütigt hat. Ich habe mich so geschämt.
Meine Oma hat mich ganz für sich vereinnahmt, kontrolliert, immer verfügbar, als ihr Eigentum. Bis ich 13 Jahre alt war musste ich mit dieser perversen Kuh im Ehebett schlafen. Ich hatte kein eigenes Zimmer (obwohl Platz in dem Haus gewesen wäre). Das fand sie so schön, abends im Bett hat sie mir von ihren Kriegsleiden,
Eheproblemen etc. erzählt, begleitet vom dem Gebrüll und Geschrei meiner Eltern, die über uns ihr Schlafzimmer hatten. Dann
musste ich mir noch anhören, wie sie wirklich darüber gedacht hat, dass meine Eltern geheiratet haben. Gnadenlos.
Sie hat mir immer befohlen und gesagt, was ich tun sollte, immer mit der Drohung, dass sie sonst furchtbar traurig wäre, und
sie würde doch soviel für mich tun, außerdem wäre sie schon alt und wenn sie tot wäre, dann hätte ich es aber. Und wenn ich sie nicht hätte, dann wäre ich ganz arm dran, weil sich sonst ja keiner um mich kümmern würde. Diese Dreckskuh. Ich
spüre jetzt noch die Todesangst, die ich damals hatte. Eine meine ersten Erinnerungen so mit 3 J. sind an eine Frau m.
dunklen Haaren, weit aufgerissenen Augen, drohendem Zeigefinger, die ihre Griffel an mir hat, meine Oma. Ich
fühle Todesangst und auch, dass dies eine Irre ist, mit der man mich alleine gelassen hat.
Mein Vater ist ein brutales, gewalttätiges Monster. Ich wurde nur angebrüllt, beschämt und gedemütigt, oft auch ganz unvermittelt. Nichts was ich getan habe, hat vor seinen Augen Anerkennung gefunden. Ein falsches Lachen, ein Heft wird
mir ins Gesicht geknallt. Er hat mich mal in den Hintern getreten, da habe ich gedacht, dass unten bei mir alles kaputt war.
Meiner Mutter hat er eine Bierflasche an den Kopf geschmissen und sie mir dem Auto angefahren, dass sie hingefallen ist
und dann ist er halb über den Fuss gefahren. Das war das Allerentsetzlichste. Ich spüre das noch heute, wie ohnmächtig
und ausgeliefert ich mich gefühlt habe. Meine Mutter hat nur leidend geguckt, ich sollte das auf keinem Fall erzählen. Ich habe damals tatsächlich noch gedacht, jetzt merkt er, er ist zuweit gegangen, jetzt entschuldigt er sich bei ihr. NEIN. Er ist ausgestiegen, kommentarlos, als wäre nichts passiert. Ich habe gedacht, ich müsste sterben so jemanden als Vater zu haben.
Die Spiele mit mir waren Decke ganz eng über den Kopf ziehen, ich hatte Angst, ich müsste ersticken und habe mich gewehrt. Dann hat er fester gezogen, ich konnte mich gegen einen erwachsenen Mann körperlich nicht wehren. Das einzige was ich tun konnte, war stillhalten und
hoffen, dass er dann aufhört. Das war auch sonst das einzige Mittel, dass ich gegen diese Schweine hatte. Gerne hat
er mich auch über Geländer in die Tiefe gehalten, er hat gelacht, ich hatte Todesangst und habe geweint. Schreien war
ganz schlecht, das hat alles nur schlimmer gemacht. Er war dann immer empört, warum ich denn keinen Spass verstehen würde, das würde er doch nicht im Ernst tun, ich wäre halt ein blödes Blage, dass einem allen Spass verderben würde, mit mir
könne man nichts anfangen, ich sei komisch.
Mit 6 J. haben die mich schon so vergiftet, dass ich wirklich der Meinung war, ein abgrundtief grässlicher Mensch zu sein,
alles falsch zu machen, an allem Schuld zu sein und dass die in mich reingesehen und erkannt hätten, wie furchtbar ich in Wirklichkeit wäre. Mit 13 J. ist meine Mutter weggelaufen und es kam dann als Stiefmutter noch eine 5. Person hinzu, die
mich genauso grausam behandelt hat. Diese Lügen und Grausamkeiten zu durchschauen, war dann später so schwer für mich.
Aber ich habe es doch geschafft.
Ich habe unter starker Akne, Fressanfällen gelitten, immer gestresst, angestrengt, die Angst spürend, aufzufliegen, Gewalt habe ich gegen mich gerichtet mit Drücken und Kratzen bis Blut kommt. Meine Not hat niemand erkannt und niemanden
interessiert, mich auch nicht. Ich habe mich immer als defekt, fehlerhaft gesehen.
Als ich 30 J. war hat mir eine aufmerksame und interessierte Kollegin, das Drama des begabten Kindes geschenkt. Intellektuell
habe ich begriffen, was mir widerfahren ist. Aber bis zum Fühlen und Erleben war es ein schwerer Weg mit vielen Rück-
schlägen, WAS ES ABER WERT WAR. ABSOLUT. Jetzt bin ich 43 J. fühle und erlebe meine Wahrheit gemeinsam
mit der kleinen K. (nicht mehr ES).
Ich komme jetzt zum eigentlichen Anliegen. Ich habe angefangen zu malen und Modern Dance zu machen, was mir auch
Freude macht, ich mich spüren kann und ich beschäftige mich auch mit meinem inneren Kind. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass das noch immer nicht ich bin, das noch etwas verschlossen ist, an das ich nicht komme. Dass das alles etwas von Weg-
laufen hat, etwas Gefälliges. Ich hatte dann auch Halsschmerzen, und zugleich das Gefühl, das mir der Hals zugedrückt wird, Beklemmungen in der Brust und Herzrasen. Ich hatte panische Angst. Ich habe dann die kleine K. gefragt. Sie hat still gesessen, wollte sich nicht bewegen, nicht tanzen, malen oder schreiben, sondern hat gesagt, sieh mich an, fühle meine Wahrheit, wie es war als Kind. Im Moment benutzt Du mich auch nur wie das Dreckspack es getan hat, meine guten Seiten
ausbeuten durch Malen usw. Ich war geschockt, denn das stimmte genau.
Ich habe mich dann ruhig hingesetzt und habe gefühlt wie ich mich als Kind wegen der Behandlung durch dieses gemeine
Pack fühlen müsste. In jeder Faser meines Körpers habe ich es gefühlt. Dieser abgrundtiefe Schmerz, gepaart mit Todes-
angst. Ich habe ganz deutlich gespürt, wenn ich diese Gefühle als Kind zugelassen hätte, mich der Schmerz und auch
die Angst zerrissen, ich wäre ich 1000 Stück auseinandergeflogen. Darum immer schön anspannen. Die Todesangst war also komplett berechtig.
Ich musste in dieser Zeit ständig meine Zunge unter den Gaumen pressen, ich konnte das gar nicht mehr kontrollieren.
Mir ist dann eingefallen, dass ich das immer machen musste, um nicht zu weinen, sonst hätte es noch mehr Häme gegeben,
aber auch um zu kontrollieren, was ich sage, damit nichts aus mir herausplatzt, was missfallen erzeugt hätte. Also eigentlich
alles.
Nach einer Weile wuchs Entsetzen in mir und dann wieder nach einer Weile kam die Wut auf diese Verbrecher. Ich kann die
Wut auch jetzt beim Schreiben spüren. Sie kriecht in mir hoch, von den Zehen bis zu den Haarspitzen, füllt mich aus, steigt
mir zu Kopf, ich sehe nur noch schwarz und violett. Ich spüre auch Energie. Und jetzt kommt es, ich freue mich über diese
Wut. Sie regt mich aber auch an. Ich dachte erst an Malen, als ich das „kleine“ Papier sah, war klar, das passt nicht zu dieser
gewaltigen berechtigen Wut auf Verbrecher. Dann dachte ich an Joggen gehen, im Sinne von Austoben. Das wollte ich
aber nicht, weil ich das als Geringschätzung gegen über der Wut empfand und ich bin doch froh, dass sie endlich da ist.
Schreiben hat auch nichts genutzt. Die Wut wollte in Aktivität umgesetzt werden. Aber nicht gegen Unschuldige oder irgend-
welche Gegenstände.
Mein Vater kam mir in den Sinn, der einzige der noch lebt. Munter, unbehelligt und vergnügt, ohne Unrechtsbewusstsein, sondern sich als Opfer einer so missratenen Tochter, die spinnt und Lügen erzählt, stilisiert. Das
ist sehr bitter für mich mit anzusehen und zu akzeptieren. Aber auch das schied aus, weil ich nicht wegen Körperverletzung angezeigt werden
will. Ich habe mich dann für 2 angeblich teure Bilder meines „Erbes“ entschieden, die – wie konnte es anders sein – wertlos
sind. Ich habe die Leinwände dann erst zerstochen, dann die Bilderrahmen zertreten und dann noch in kleine Stücke zer-
sägt. Ich habe mich dabei von der berechtigten Wut leiten lassen, wild, unbändig. Dann fühlte ich mich schon befreiter. Aber es fehlte noch etwas. Ich habe dann im Auto geschrieen, das rausgelassen, was an Wut und Schmerz in mir war. Ich wusste nicht, dass ich solche Töne erzeugen kann. Dann ging es mir gut, die Halsschmerzen und der Druck sind weg, meine Stimme ist
anders geworden.
Es bleibt aber noch so, die Wut kommt und veranlasst mich zu Taten, Bewegung. Beim nächsten Mal hatte ich das Bedürfnis,
die Wut, die ich fühle in Bewegung umzusetzen. Aber nicht im Sinne von Tanzen, sondern die Formen und Abläufe, die
mir dazu einfallen, z.B. Stampfen. Ich fühle mich damit gut, meine auch nicht, dass ich etwas verdränge. Aber ich bin doch sehr unsicher, ob das nicht doch eine Ersatzhandlung ist und ich noch immer etwas unterdrücke oder schone. Ich hatte hier auch schon öfter gelesen, dass Kissen oder Säcke schlagen unnütz ist. Was mich auch beunruhigt ist, dass meine Sehkraft so schlecht geworden ist. Und nachdem, was ich alles schon gespürt habe, will ich da nicht einfach drüber hinwegsehen.
Bislang habe ich meine Schmerzen, Not, Angst, etc. und auch die Wut auf meine Peiniger gesehen und gefühlt. Aber die kleine K. ist ja noch mehr, ich habe auch als Kind schon Mut und Stärke gezeigt und ich habe mittlerweile Freude an kreativen Tätig-
keiten, die früher belächelt oder abgetan wurden, dass ich so etwas ohnehin nicht könne. Könnte das schlechte Sehen jetzt eher daran liegen, dass ich mich immer noch nicht in meiner Gesamtheit sehen kann, mit meinen Bedürfnissen und Wünschen für mein Leben? Ich möchte unbedingt die Wahrheit sehen.
Diese beiden Punkte beschäftigen mich sehr. Ich bin schon 43 J., wer weiß wieviel Zeit mir noch bleibt. Auch wenn mein Leben
nach „normalen“ Gesichtspunkten gelungen aussieht, spüre ich doch, dass dies bislang nicht wirklich ganz und gar mein Leben war/ist.
Und da möchte ich hin. Obwohl ich schon aufmerksam bin, passiert es mir doch, dass ich immer noch über die alten einge-
impften Giftfallen stolpere, besonders wenn Nettigkeit im Spiel ist. Nettigkeit war so schrecklich lange Zeit, dass einzige, was
ich erwarten durfte. Das musste ich dann bis zum letzten Tropfen ausdrücken. Oft übersehe ich auch immer noch Lügen,
die sich zwischen Wahrheiten verstecken. Bevor ich reagiere, egal bei was, nehme ich mir jetzt die Zeit zu spüren, ob das wirk-
lich das ist, was mein Kind und ich wollen, oder ob das alte Gift oder die Angst oder was auch immer reagiert.
Die E-Mail ist doch länger geworden als beabsichtigt. Entschuldigen Sie. Wenn es Ihre Zeit erlaubt, würde ich mich
sehr über Ihre Einschätzung freuen.
Nochmals vielen Dank und viel Gesundheit an Sie, liebe Alice Miller und das ganze Team.
Beste Grüße
K.B.
AM: Ihr Brief ist erschütternd, aber zugleich erhellend, und ich bin froh, dass er von den Besuchern dieser Seite gelesen und wiedergelesen werden kann, weil er sie ermutigen wird, ihren eigenen Kampf mit der Lüge nicht aufzugeben. Sie schreiben: „Diese Lügen und Grausamkeiten zu durchschauen, war dann später so schwer für mich.
Aber ich habe es doch geschafft.“ Ihr Brief zeigt so deutlich und belegt es in vielfacher Weise, was die wahre Genesung ausmacht. Sie haben unentwegt Ihre Wahrheit gesucht und Sie zeigen, wie Ihnen der berechtigte Zorn geholfen hat, sich selbst zu finden. Der Zorn ist nur ein WEG, er ist eine normale, gesunde Reaktion auf Gemeinheit, Perversion und Missbrauch, also letztlich ein Weg zur Befreiung. Zu dieser Befreiung von den Spuren so schrecklicher Misshandlungen gratuliere ich Ihnen von Herzen.