Wer ist pervers?
Thursday 02 November 2006
Liebe Alice Miller,
ich möchte Ihnen von einer aufregenden, gleichwohl verstörenden, aber erhellenden Erkenntnis berichten, die ich Ihnen und Ihrer Arbeit zu verdanken habe.
Vor einiger Zeit haben Sie mir auf eine Anfrage geantwortet. Damals berichtete ich, daß ich ganz verzweifelt war, kaum Erinnerungen an meine Kindheit vor meiner Pubertät zu haben. Aber ich wurde mein Leben lang von Träumen gequält, in denen ich ein Kind vor dem Tod bewahren mußte, was mir nicht gelang. Sie haben daraufhin mit einer für mich zunächst erschreckenden Klarheit geantwortet “Die Träume sind die Erinnerungen!”
Es dauerte einige Zeit, bis ich verstand, daß diese Träume nicht allein symbolisch waren, sondern Erinnerungen in Träume überführt.
Seitdem Sie mir dies in schneidender Klarheit – nicht anders kann ich das bezeichnen – in schneidender Klarheit gesagt hatten, veränderten sich meine Träume: seither gelingt es mir, das Kind, daß ich bisher vor dem Sterben retten sollte, zu schützen. In meinen Träumen nehme ich mich immer mehr meines inneren Kindes an. Oft noch taucht meine Mutter auf und wirft mir vor, dieses Beschützen des Kindes könne mir als Pädophilie ausgelegt werden, als Perversion. Das hat mich anfangs entsetzt. Aber meine Mutter hat mir mein Leben lang vorgeworfen, daß ich sexuell pervers sei, um sie damit zu verletzen. – Kinder von Nachbarn, Bekannten und Verwandten hat meine Mutter übrigens fast immer als unverschämt, unerzogen, trotzig, verschlagen und falsch und als ihre Eltern erpressend bezeichnet! –
Die Vorwürfe meiner Mutter in meinen Träumen, ich sei pädophil oder überhaupt pervers, haben mich anfangs völlig verschreckt – denn ich wollte das Kind, das in meinen Träumen erschien, stets nur beschützen oder eben vor sexuellen und gewalttätigen Übergriffen schützen. Sexuell haben mich Kinder niemals interessiert; ich habe diese Vorwürfe überhaupt nie verstanden, es war völlig abseitig.
Durch Ihre Bemerkungen, liebe Alice Miller, konnte ich nun sogar einen zweiten wiederkehrenden Traum mit dem Kindertraum vereinen. Seit Jahren träumte ich, daß ich Glasscherben erbreche müsse. Der Strom dieser Glasscherben – zuweilen auch Holzssplitter oder rostige Nägel – hört überhaupt nicht auf. Ich würge und würge und würge immer mehr von diesen Glassplittern aus…
In einem jüngsten Traum decke ich meinen Eltern den Tisch; ich versuche, eine schöne und angenehme Tafel zu bereiten. Aber ich werde nur verspottet und verhöhnt von meinen Eltern: “Jungen machen keine Hausarbeit; es ist albern und tuntig, sich so um eine Tischdekoration zu bemühen!” Dieser Hohn und Spott verwirrt und erzürnt mich; vor lauter Unsicherheit zerbreche ich ein Glas – und die Splitter, die mir sonst aus dem Hals herausdrängen, bohren sich in meine Hand, tausende von feinen Splittern, milchweiß und wie spitzige Tropfen verletzen mich – ich blute. Jemand weist meine Mutter darauf hin, aber sie beachtet meine Verletzungen gar nicht. Mit harten und schwarzen Augen sieht sie absichtlich, bewußt und kalt über meine schmerzenden Verletzungen hinweg…
Die Szenerie wechselt. Ich befinde mich unvermittelt in einem Freundeskreis. Hier, weiß ich, bin ich willkommen. Ein kleines Kind kommt heran, setzt sich auf meinen Schoß. Ich will es wegstoßen, weil meine Mutter doch mich immer wieder gewarnt hat, das sei Pädophilie. Aber das Kind sagt: “Ich will aber gerne bei dir sein. Und deine Freunde freuen sich, wenn du dich um mich sorgst. Sie mögen uns beide…” Und nichts weiter will ich, als dieses Kind beschützen und umsorgen und ihm ein angenehmes Leben bereiten…
Ich erwache verstört nach diesem Traum – und nur wenige Augenblicke später, sehe ich klar: ist jenes milchige Glas, das ich erbreche, das meine Hand verletzt, das Sperma eines Mannes, der mich mißbraucht hat? Sperma, das ich erbreche, das über meine Hand rinnt – und hat meine Mutter das entdeckt und gesehen mit jenen tellergroßen Augen, die mich oft auch im Traum verfolgten? Nun erklärt sich für mich, daß meine Mutter schon in meinen Kindertagen gefürchtet hat, ich würde schwul und pervers werden. Und das, so hat sie mir einmal gestanden, mußte sie “zu meinem Wohle bekämpfen” mit Härte. Das sei ihre Lebensaufgabe gewesen, denn schon als Vorschulkind sei ich anders als andere Kinder gewesen und sie mußte mich verändern, umerziehen, in “die richtige Richtung lenken…”
Als mich dieser Gedanke ergreift, überkommt mich eine ungeheure Ruhe – ja, sage ich mir, diese Träume sind Erinnerungen. Da ist etwas in meiner frühen Kinderzeit geschehen, etwas Sexuelles, etwas Verbotenes, etwas Ungeheures. Es erklärt, weshalb mich meine Mutter von Kindesbeinen an beobachtet, bewacht und verachtet hat – ihren “perversen, üblen, vebrecherischen Sohn”, der nichts taugte. Mir hat sie die Schuld gegeben für das Vergehen eines anderen.
Dabei fällt mir eine ungeheure Äußerung des ehemaligen paderborner Erzbischofes Johannes Joachim Degenhardt ein, der sich kritisch über den Feminimus äußerte. Es wäre, so sagte er, Männern nicht wirklich zuzumuten, daß sie Aufgaben von Frauen übernähmen, z.B. die Kleinkinderpflege. Es wäre ja kein Wunder, wenn ein Vater, der seinen Kindern die Windel wechselt und dabei mit der zarten Haut der Kinder in Kontakt käme, sexuelle Gefühle entwickeln würde. Dieser Unsinn – ist er ähnlich meiner schwer gestörten katholischen Mutter durch den Kopf gegangen. Hat sie mich deshalb der Perversion beschuldigt? Sollte ich das Kind sein, das “einen Mann/seinen Vater verführt hat?”
Natürlich überkam mich nach Stunden wieder die Reue über solche Assoziationen – aber gleichzeitig haben sie mir eine “ungeheure” Klarheit
gebracht, die ich erst einmal “verdauen” muß. Ich hatte offenbar viel dergleichen zu “verdauen” – kein Wunder, daß ich seit zwanzig Jahren an Darmentzündungen leide…
Aber mit dieser schrecklichen und erhellenden Wahrheit erklärt sich für mich vieles. Das habe ich Ihren Büchern und Ihrer so einschneidenden Äußerung zu verdanken. Ich weiß gar nicht, wie ich mich dafür bedanken kann… Es ist alles so ungeheuerlich – und dennoch stellt sich ein Gefühl der Erleichterung ein. Von Herzen also meinen Dank für Ihre Arbeit – für mich hat sie sich gelohnt.
Herzliche Grüße – W. B.
AM: Ich bin froh, dass Ihre Träume Sie nun leiten wollen. In meinen Augen ist das Kind auf Ihrem Schoß niemand anderer als SIE. Es ist wunderbar, dass Sie sich ihm widmen wollen, mehr brauchen Sie nicht, um gesund zu werden. Doch Sie werden bei dieser wichtigen Arbeit immer noch gestört, durch die Perversität Ihrer Mutter, der Sie noch wie ein Kind alles glauben. Die Glasscherben, die Sie herausspucken, sind die Lügen und Verdrehungen Ihrer Mutter, die Sie im Wachleben noch nicht durchschauen, aus Angst vor der Strafe, aber in den Träumen spucken Sie das Gift immer wieder heraus. Die wirklich Perverse in Ihrem Leben ist Ihre Mutter. Dieses Gift haben Sie schon immer schlucken müssen, von Anfang Ihres Lebens an. Jetzt werden Sie so lange spucken müssen, bis alle ihre Lügen, Warnungen, Angstmachereien raus sind. Dann werden Sie aufhören, diesen Mist zu glauben und sich mit dem Kind beschäftigen, das Ihnen klar sagt, wer Sie sind und wohin Sie gehören. Und dass Sie mit dem, was Sie suchen, gar nicht allein sind. Es gibt Menschen, die ebenfalls ihre Wahrheit suchen, doch Sie finden sie erst, wenn Sie den Mut haben zu sehen, dass das, was Sie für unmöglich hielten, REAL war.