Ich habe verstanden
Wednesday 03 October 2007
Liebe Alice Miller,
vor ein paar Wochen drückte mir ein Freund ein Buch in die Hand, ohne irgendetwas dazu zu sagen. Sein einziger Kommentar: Lies das, bitte. Ich glaube, dieses Buch wurde für Dich geschrieben.
Ich gebe zu, den Titel, “Das Drama des begabten Kindes”, fand ich sehr pathetisch, und bei dem Wort “begabt” fühlte ich spontan einen Unwillen. Ich dachte, ist das jetzt wieder eins dieser unzähligen Bücher, in denen es um Intelligenzquotienten geht, um ADS und endlose Diskussionen darum, ob sog. Eliteschulen nun berechtigt seien oder nicht? Den Namen “Alice Miller” hielt ich außerdem für amerikanisch, und zumindest eine bestimmte Art von populärwissenschaftlicher Literatur aus den USA mag ich nun schon seit einiger Zeit nicht mehr lesen.
Aber es war eben ein guter Freund, der mir das Buch gab, und als ich irgendwann abends kein Buch mehr hatte, das mich interessierte, fing ich dann doch an zu lesen. Erstmal nach dem Bibelstechprinzip, also willkürlich auf irgendeiner Seite – was ich nur bei Büchern mache, von denen ich annehme, daß ich sie sowieso schnell weglegen werde.
Doch dann war ich schon nach zwei oder drei Seiten mittendrin. Und ich begann nochmal ganz von vorne.
Und seither rattert es in mir. Bzw. es bewegt sich überhaupt mal wieder etwas in mir. Mittlerweile habe ich zusätzlich noch “Evas Erwachen” und “Die Revolte des Körpers gelesen. Und einige Artikel und Interviews auf Ihrer Website – und vor allem die Leserpost (inzw. fast komplett).
Was soll ich sagen? Ich sage es erstmal ganz einfach: Danke für diese Bücher und Texte. Ich kann ohne jegliche Übertreibung sagen: Diese Texte sind lebensverändernd, in jeglicher Hinsicht. Es kommt mir vor, als hätte mir jemand eine lebenslang getragene Blindenbrille abgenommen (ich hatte sie gar nicht bemerkt). Und zum ersten Mal habe ich das deutliche Gefühl, daß ich vielleicht irgendwann auch noch den Blindenstock wegwerfen kann, den mir irgendwer (wer genau?) frühzeitig in die Hand gedrückt hat. Das ist allerdings ein disparates Gefühl. Ein Gefühl von erahnter Freiheit, und gleichzeitig Angst. Und gleichzeitig verstehe ich rein intellektuell, daß das wohl “so sein muß”. Sie beschreiben ja genau dies immer und immer wieder.
Ich hoffe, es geht Ihnen so gut, wie Sie es verdient haben, Alice Miller.
Liebe Grüße “unbekannter Weise”, M.
AM: Ich habe mich sehr über Ihren Brief gefreut, weil er mir zeigt, dass ich manchmal doch sehr rasch und in der Tiefe verstanden werden kann. Sie schreiben: „Ich bin durch Ihre Analysen wieder fähig, überhaupt irgendeinen Sinn in der Menschheit zu erkennen. Und statt einer abgrundtiefen Verachtung (die dasselbe ist wie Verzweiflung) MITGEFÜHL zu empfinden. Mitgefühl aber bedeutet: 1. überhaupt erstmal wieder ein Gefühl, und 2. ein Verstehen, warum Menschen so sind, wie sie “sind”.“ Sie schreiben nichts über Ihre Kindheit, aber Ihre Freiheit, meine Gedanken so auf Anhieb zu verstehen, hat mich verblüfft. Ich freue mich auch, dass Sie Ihre Lebendigkeit entdeckt haben und sich erlauben, das ernst zu nehmen, was Sie schon immer wussten, aber vielleicht nicht zu denken wagten. Nun wagen Sie einen Prozess, der Sie weiter führen wird.