Das Gefängnis der Schuldgefühle
Thursday 14 September 2006
Liebe Alice Miller!
Zunächst möchte ich Ihnen für die Antwort vom 11.7. danken. Die „Revolte“ habe ich mittlerweile gelesen, das „Drama des begabten Kindes“ habe ich angefangen und je mehr ich mit Ihren Büchern in Berührung komme, umso mehr Fragen und Gefühle steigen in mir hoch. Es ist so, als würde ich einige grundlegende Dinge über das Leben in seiner reinsten Form nachlernen. Das macht mich zum einen traurig, da ich sehe, wie besonders viele Menschen in meinem Alter (ich bin 25) damit nichts zutun haben wollen, sie suchen lieber Ablenkung und „flüchten“ sich in Intellektualisierungen oder Kunst. Aber meine Freunde haben auch nicht meinen Leidensdruck… Auf der anderen Seite macht mir die Lektüre immer wieder Hoffnung, da ich sehe, dass hinter allen schlimmen medizinischen Äußerungen wie Angststörung, Panikattacke, narzisstische Störung auch nur einfache Grundmuster eines verletzten und alleingelassenen Menschen stecken. Einfache Grundmuster, zu denen ich mich wieder vorkämpfen möchte, um wenigstens mit mir selber verständnisvoll umzugehen. Es gibt sicherlich nicht wenige Tage, an denen ich fürchte, dass meine Panikstörung jetzt in eine Psychose umkippt, ich fühle mich dann unwirklich und entfremdet, habe riesengroße Angst und bin froh, wenn ich in meiner Umgebung noch alles wie immer wahrnehme. Das schlimmste ist dabei sicherlich, dass ich mich schon selbst mit Krankheitsbildern belege, weil ich es fast komplett verlernt habe, meine ureigensten Gefühle wahrzunehmen. (meine Mutter hat ihren Teil dazu beigetragen, da sie mich fast mehr als „Fall“ als als Sohn gesehen hat) Ich denke, dass auf die gleiche Art sehr kranke Menschen fallen gelassen werden, da keiner mehr an sie irgendwie rankommt. Und wenn sie sich dann selbst auch gar nicht mehr wahrnehmen und in der Folge nicht artikulieren können, wie soll man ihnen da helfen? Ähnliche Ängste stehe ich von Zeit zu Zeit aus, nämlich dass meine Gefühlsleere chronisch wird, und ich mich somit gar nicht mehr mitteilen kann. (ich kann natürlich weiterhin intellektualisieren, aber das genügt mir zum Überdecken der inneren Leere nicht mehr)
Ich möchte nicht meinen ganzen Lebenslauf niederschreiben, sondern aktiv an meiner neuesten Erkenntnis weiterarbeiten. Mir steigt diese Tage zu Bewusstsein, wie stark mich eigentlich meine beiden Eltern ausgebeutet haben. Ich bin ganz sicher, dass ich von meinem Vater wie auch überraschenderweise von meiner Mutter (was ich vor einem Jahr nie geglaubt hätte) den unbewussten Auftrag mitbekommen habe, du musst dich ganz in meinen Dienst stellen. Bei meinem Vater hat die Botschaft die Nuance, du darfst mich nicht überlasten, mich nicht mit Dingen konfrontieren, denen ich mich selbst nicht gestellt habe und vor allem nicht meinen christlichen Wertvorstellungen zuwider laufen. (denn damit stellst du mich in Frage und ich habe viel zu viel Angst davor) Kurz, du darfst meine Ängste nicht aktivieren, also ein ebenso abgesperrtes und klägliches Dasein führen wie ich. (ich schreibe aus Sicht meines Vaters) Bei meiner Mutter lautete der Auftrag so, dass ich den Weg zu gehen habe, den sie mir vorgab. In erster Linie hieß es, mich von meinem Vater abzugrenzen, da er der Mann ist, den sie nie geliebt und nur auf Drängen ihrer Familie geheiratet hat. Noch heute sagt sie mir, dass ich den Sinn meines Lebens darin suchen könnte, nicht so zu werden wie mein Vater. Erahnen sie die Abscheulichkeit dieser Botschaft? Des weiteren hat sie mich auf psychologisches Terrain gelockt, mir Floskeln statt Liebe zu Fressen gegeben, und beteuert bis heute, dass sie alles für mich tun würde. Dafür ist sie aber enttäuscht, wenn ich mich fünf Tage nicht melde, und fragt mich daraufhin, ob ich mich denn gar nicht mal wieder auf sie freuen würde. Beide Elternteile haben von ihren Eltern emotional fast gar nichts bekommen, mein Vater hat alles verdrängt, meine Mutter beteuert dagegen, in einer 5-jährigen Therapie alles nachgeholt zu haben. Dass sie aber immerfort anderen Menschen hilft, um diese an sich zu binden, kann sie immer noch nicht zulassen. Bis vor wenigen Tagen kam es mir nicht einmal komisch vor, dass eine Mutter ständig in das Leben ihrer Söhne eingreifen möchte. Ich habe nie Ermutung zur eigenen Unabhängigkeit erfahren. Nur in tausend Worten, aber wie ich Ihren Büchern entnehme, spielt sich das wesentliche auf einer Ebene ab, die sich den Worten entzieht. Ich „erahne“ demnach ganz vage, was meine Kinderseele für grausame unbewusste Botschaften erleiden musste, und wie ich in der Folge verfälscht wurde, durch tausend liebgemeinte Worte, die mich langsam um meine eigene Urteilsfähigkeit brachten. (ich habe meiner Mutter eine Zeitlang alles geglaubt)
Was ist das für eine Ebene? Sprechen wir hier von der Psyche? Warum habe ich heutzutage Angst, mit einem unbekannten Menschen in Kontakt zu treten, wenn mir mein Verstand doch signalisiert, dass keine Gefahr mehr droht? Es ist manchmal kaum zum aushalten, aber mein Verstand lacht mich aus für meine Feigheit, die aber trotzdem begründet ist, weil ich mich nun mal einfach fürchte. Ich fürchte mich z.B. davor, Frauen kennen zu lernen. Es ist schon mehr als eine bloße Schüchternheit vor dem anderen Geschlecht, es sind starke Minderwertigkeitsgefühle, Angst zu versagen, Angst zu sensibel und kein echter Kerl zu sein, Angst egozentrisch und weltfremd zu sein, Angst, mich immer wieder in eine andere zu verlieben, und nicht mal einer einzigen Frau meine Liebe zu schenken. Dies alles verträgt sich nun überhaupt nicht mit meinen Trieben. Ich würde sagen, dass mein Sexualtrieb sogar sehr stark ausgeprägt ist, aber immer wieder durch diese starken Schuldgefühle ausgebremst wird. Ich gehe mit Ihnen darin überein, dass eine Psychoanalyse (welche ich ab Oktober beginne) nicht nur auf die Triebtheorie beschränkt sein darf. Denn dann verstärken sich die Minderwertigkeitsgefühle noch! Ebensowenig reicht es aus, sein Verhalten so zu trainieren, dass man seine Blockaden überwindet. Was soll ich mit Selbstsicherheitstraining, wenn ich nicht weiß, wofür ich es erlerne? Ich möchte an dieser Stelle großen Wert auf den Begriff des „Lohnens“ legen. Wofür kämpfen, was ist am Ende mein „Lohn“? Ich empfinde eben kaum Befriedigung, da fast alles durch diese schrecklichen Schuldgefühle, die Geisel der Vergangenheit zugesperrt ist. Gibt es noch etwas, dass ich gar nicht kenne? Gibt es eine Befriedigung ohne Schuldempfinden? Gibt es menschlichen Kontakt ohne Schuldempfinden? Das würde mir Kraft zum Leben geben, dann bräuchte ich keinerlei „Übungen“ zu machen.
Ich fühle mich, als rennte ich gegen eine Mauer. Mein Verstand ist gnadenlos überlastet, da er die Lage ganz sachlich und neutral analysiert und damit meinem Empfinden keine Rechnung trägt. Und mein Fortschreiten in dieser Welt ist von Angstlustschmerz geprägt, das etwas-Wollen, z.B. diese oder jene Frau oder ein Treffen mit Freunden, und sofort die übergroßen Ängste, das nicht-mehr-aushalten der Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle, die in jeder erdenklichen Situation aktiviert werden können. Wo ist nur das Werkzeug, sich diesen Gefühlen zu stellen? Ich versuche es immer wieder, aber ich finde noch keinen Zugang. Auch in ihren Büchern sehe ich diese Kluft. Da ist auf der einen Seite der Mensch, der gerne intellektuell abwehrt, und dann das Idealbild desjenigen, der sich auf seine Gefühle einlässt und sie ernstnimmt, egal was kommt. Aber wie kann man einen ersten Schritt in diese Richtung gehen? Einen ganz praktischen Schritt? Alles was ich hier schreibe, ist meine Erkenntnis, die immer größer wird, was ich auch zu schätzen weiß. Aber wenn sie sich nicht umsetzen lässt, dann ist es eine tote Wissenschaft.
Vielleicht könnten Sie mir einen Hinweis geben. Ich bin sicher, dass meine Worte bei Ihnen ankommen, aber Sie müssen auch die Enttäuschung eines Lesers verstehen, der Ihren klugen Worten viel Glauben schenkt, so froh ist, endlich jemand getroffen zu haben, der das ausdrücken kann, was ihm schon lange auf der Seele brennt, und dann trotzdem das Gefühl bekommt, wieder mal auf der falschen Seite zu sein, (mit vielen anderen Leidensgenossen immerhin), nämlich da, wo es nicht mehr weitergeht, wo die Türen verschlossen bleiben. Aber ich bin sicherlich einer von der harten Sorte, einer, der seine Gefühle bis zum Umfallen in sich zurückhält, weil sie unangebracht oder schädigend sind. Oder zumindest es zu sein scheinen.
Wenn Sie es selbst durchgemacht haben, dann sagen Sie mir doch bitte, wie man einen ersten Anlauf starten kann, um über diese verfluchte Mauer zu springen!!! Wie man seinen Körper langsam aber sicher beruhigen und ihm endlich das Gefühl geben kann, sich nicht mehr fürchten zu müssen.
Danke für Ihr Interesse!
T.M. aus Berlin
AM: Sie fragen mich, „wie man seinen Körper langsam aber sicher beruhigen und ihm endlich das Gefühl geben kann, sich nicht mehr fürchten zu müssen“. Ich denke, dass man dies nicht kann, wenn man nicht weiss, weil man nicht wissen will, WOVOR er sich fürchtet. Er hat immer gute Gründe für diese Furcht und kann sich beruhigen, wenn er die Gründe kennt und realisiert, dass die REALE Gefahr von früher heute nicht mehr besteht. Ihr Brief ist sehr klar und folgerichtig, darum habe ich den Eindruck, dass Sie das erreichen werden, was Sie suchen: bei sich sein zu dürfen und sich von den Schuldgefühlen zu befreien, die man Ihnen aufgesetzt hat (die Mauer?). Lesen Sie die FAQ-Liste, bevor Sie sich für einen Therapeuten entscheiden, der Ihnen wirklich beistehen kann, die Leiden Ihrer Kindheit zu fühlen und sich selbst treu zu bleiben. Nach meiner Erfahrung kann die Psychoanalyse dies nicht leisten. Lesen Sie auch meine letzten Artikel auf dieser Webseite, um dies zu verstehen. Ich wünsche Ihnen viel Glück.