Die Angst überwinden

Die Angst überwinden
Thursday 03 August 2006

Liebe Frau Miller,

ich verfolge die Leserpost auf Ihrer Homepage in letzter Zeit sehr aufmerksam. Es macht mich traurig und wütend zu sehen, wie viele Menschen unter der Tatsache leiden, dass sie als Kind auf verschiedene Weise mißhandelt wurden. Ich bin um sehr mehr traurig, weil die Zeit und Energie, die die Eltern ihren Kindern hätten „opfern“ müssen, in keinem Verhältnis steht zu der Zeit und Energie, die das ehemalige Kind im Erwachsenenalter damit verbringt, die Folgen dieser Vernachlässigung in den Griff zu kriegen bzw. damit zu leben.

Zu meiner Person. Ich bin 33 Jahre alt, habe Psychologie studiert und bin seit etwa 8 Jahren in der Wissenschaft tätig. Mein Vater gilt bei Freunden und Verwandten als lockerer, großzügiger, freundlicher und umgänglicher Mann und war und ist beruflich erfolgreich. Zu Hause war er schweigsam und streng. Da er Angst hatte, dass wir Kinder (eine Schwester, 4 ½ Jahre älter) verwöhnt werden, wurden unsere Wünsche nur selten erfüllt. Das „Überschütten“ mit viel zu großen Geschenken setzte erst später ein, als ich es nicht mehr genießen konnte. Ich erinnere mich an eine einzige Situation, in der mich mein Vater richtig versohlt hat.

Meine Mutter ist vor 6 Jahren gestorben. Sie war insgesamt auch eher schweigsam. Wenn sie redete, dann waren es (meist abfällige) Urteile über andere Menschen und über das, was sie taten. Ich erinnere mich, dass ich es als Kind fürchterlich gefunden habe, dass sie nicht einfach sagen konnte, dass etwas schön ist und ihr ohne Einschränkung gefällt. Sie konnte laut rumschreien, wenn ihr etwas nicht paßte und war sehr streng. „Keine Widerrede!“ hieß es oft, und: „Du hast keinen Grund, sauer zu sein!“ Wir bekamen manchmal Ohrfeigen. Außerhalb unserer Familie war sie scheu und ängstlich, das totale Gegenteil meines Vaters. Sie war ein unzufriedener Mensch, und auch der Reichtum, den mein Vater in späteren Jahren erarbeitet hatte, machte sie nicht glücklich.

Über meine Kleinkindzeit weiß ich wenig, da es keine Fotos oder Filme von mir gibt und meine Eltern mir nicht viel erzählt haben. Meine Mutter kann ich nicht mehr fragen, mein Vater hat sich nie sonderlich viel mit mir beschäftigt. Er hat immer viel gearbeitet und war dementsprechend „im Streß“ und nicht ansprechbar, wenn er abends nach Hause kam. Meine spätere Kindheit war geprägt von Zwängen, Tics und Ängsten (Waschzwang, Blasenschwäche, Räuspertic, Angst vor Vergiftung, Angst vor einer tödlichen Erkrankung). Ich erinnere mich an eine Situation, in der mir meine Mutter „außer der Reihe“ ein paar Schuhe kaufte. Ich schloss daraus, ich hätte eine tödliche Erkrankung. Es mußte einen wirklich wichtigen Grund geben, dass ich ein Geschenk bekam. Und da weder mein Geburtstag noch Weihnachten war, konnte nur Mitleid mit dem todkranken Kind die Ursache sein. Meine Macken schienen meinen Eltern aber offensichtlich nie so dramatisch zu sein, dass sie mit mir einen Psychologen aufgesucht hätten. Ich war in ihren Augen vermutlich einfach ein bißchen komisch; außerdem legten sich diese Macken mit der Zeit immer wieder.

In der Pubertät bekam ich eine Eßstörung und nahm ab. Ich war zwar nie so dünn, dass mein Leben in Gefahr gewesen wäre, aber Essen bestimmte ganz eindeutig in zwanghafter Weise mein Leben. Während meiner dünnen Phase plagten mich zudem Ängste über die Zukunft der Welt. In meinen Augen lief die Menschheit geradewegs auf eine Katastrophe zu (Umweltverschmutzung, Krieg). So ab etwa 16-17 Jahren ging es mir wieder besser und ich dachte, nun wäre alles im Lot.
Mit 19 ging ich zum Studieren in eine andere Stadt. Obwohl ich mich sehr auf die Selbständigkeit gefreut hatte, waren die zwei Jahre in der Fremde ein Fiasko. Ich nahm 20 Kilo zu und war total überfordert. Ich lebte in einem überteuerten, schimmeligen Kellerloch und war nicht fähig, mir eine andere Bleibe zu suchen. Ich nahm die Lage als unabänderlich hin und dachte, ich müsse da einfach durch. Mein damaliger Freund und meine Eltern wußten zwar davon, aber ich nehme an, sie wollten mir nicht „reinreden“. So brachte mich niemand dazu, die – im Rückblick gesundheitsschädigende Unterkunft – aufzugeben. Die Beziehung zu meinem Freund war alles andere als innig. Wir stritten nicht (was meine Mutter mir zum Vorwurf machte: „Man muß sich doch streiten in einer Beziehung!“) und wir tauschten uns auch nicht aus über das, was wir fühlten. Wir lebten lieblos nebeneinander her und wußten nichts voneinander.

Erst gegen Ende des Studiums, als ich schon wieder einige Jahre in meiner gewohnten Umgebung war, hatte ich mein seelisches Gleichgewicht scheinbar wiedergefunden. Ich arbeitete wie verrückt an meiner Diplomarbeit und mein Fleiß brachte mir Anerkennung. Nach dem Studium, das ich trotz aller Stolpersteine und aufgrund meiner Erziehung („da mußt du durch!“) sehr gut abschloss, ging es beruflich voran. Ich hatte ein klares Ziel vor Augen: Professorin werden. Dieses Ziel war meine Motivation, mein Motor und gab meinem Leben einen Sinn. Die Beziehung zu meinem Freund war unverändert, aber ich dachte, Beziehungen müßten so sein. Die Wende kam, als ich mich – mittlerweile berufstätig – in einen Kollegen verliebte. Durch die Verliebtheit wurde mir bewußt, wieviel ich fühlen kann. Trotzdem heiratete ich meinen langjährigen Freund, da ich zu feige war, die Hochzeit abzusagen (die schon in Vorbereitung war, als ich mich verliebte). Zum Glück kam ich zur Vernunft und ließ mich relativ bald nach der Hochzeit scheiden. Heute habe ich das Gefühl, dass von dieser Beziehung nichts mehr übrig ist. Überhaupt scheint es mir, als hätte ich diese Jahre gar nicht bewußt erlebt. Im Frühjahr habe ich wieder geheiratet und bin auf privater Ebene sehr glücklich. Mein Mann ist ein Segen und ich fühle mich bei ihm so wohl wie noch nie in meinem Leben.

Vor einigen Monaten las ich dann das „Drama des begabten Kindes“, das ich als 18-Jährige schon einmal gelesen hatte. Ich war genauso begeistert wie damals und las im Anschluß alle Ihre Bücher mit dem gleichen Gefühl, endlich einmal etwas zu erfahren, das für mein Leben von Bedeutung ist. Dass meine Mutter nicht sonderlich liebevoll und abwertend war, hatte ich schon sehr früh begriffen und mich damit abgefunden. Ich hatte ja noch meinen Vater, der in meiner Vorstellung liebevoll und gütig war und den ich immer als das Opfer der Launen meiner Mutter angesehen hatte. Mittlerweile sehe ich das anders und bin wütend und verbittert über die Unfähigkeit, Ungerechtigkeit und Selbstherrlichkeit sowohl meiner Mutter als auch meines Vater. Besonders seit ich „Am Anfang war Erziehung“ gelesen habe. Im Wesentlichen läßt es sich so zusammenfassen, dass ich mir der Zuneigung meines Vaters sicher sein konnte, wenn ich funktionierte, Leistung erbrachte und ihn kritiklos anhimmelte. Im Gegensatz dazu war die Zuneigung meiner Mutter von meinem Verhalten relativ unabhängig. Im Zweifelsfall machte ich ohnehin alles verkehrt. Meine Reaktion, mich in mich zurückzuziehen, wurde mir dann zum Vorwurf gemacht („Du sagst ja nie was!“).

Die Ursache dafür, das „Drama“ noch einmal zu lesen, war die Tatsache, dass sich mein beruflicher Eifer plötzlich gelegt und ich angefangen hatte, an meinem großen Ziel und meiner Arbeit im Allgemeinen zu zweifeln. Dieser Zustand hält nun seit ein paar Monaten an. Im Prinzip schwanken meine Gefühle zwischen Angst und Langeweile. Wenn es nicht so läuft, wie es soll, habe ich Angst zu versagen. Wenn es läuft, wie es soll, bin ich genervt und gelangweilt. Gemessen an meiner tatsächlichen Arbeitszeit bin ich übermäßig erschöpft und empfinde meine Arbeit als kraftraubend und sinnlos. Ich weiß aber nicht, was ich stattdessen will. Letzteres ist ein Vorwurf, den mir meine Mutter früher immer gemacht hat („Dir ist ja eh immer alles egal!“)

Bei der Arbeit bin ich aufgeräumt, strukturiert und durchorganisiert. Diese Art habe ich mir während meiner Diplomarbeit angeeignet, um mein Arbeitspensum bewältigen zu können und nichts zu vergessen. Ohne diese penible Ordnung und Struktur hätte ich das Gefühl, im Chaos zu ertrinken. Diese Arbeitsweise strengt mich an, aber ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es anders geht. Die Wissenschaft ist ein hartes Geschäft mit viel Konkurrenz und Gerangel um Drittmittel und andere Ressourcen. Wer nichts publiziert, kommt nicht weiter. Zu Hause bin ich wesentlich entspannter und offener, weniger strukturiert, ordentlich und zielgerichtet. In letzter Zeit habe ich mir sogar so etwas wie ein Hobby angeschafft, d.h. ich male Bilder und schreibe Tagebuch. Der Gedanke, mit Malen und Schreiben Geld zu verdienen, erscheint mir verlockend, aber absurd. Wer würde schon für die Auswüchse meiner Kreativität soviel Geld bezahlen, dass man davon leben kann? Ich fühle mich bei dem Gedanken lächerlich und anmaßend.

Manchmal glaube ich, dass ich mir durch meine Arbeit meine Kindheitsbedingungen erhalte: Eine unvorhersagbare, wenig gefühlsbetonte und leistungsorientierte Atmosphäre, in der ich mich alleine durchschlagen muß und versuche zu verstehen, was nicht zu verstehen ist. Wie oft habe ich mich gefragt, warum meine Eltern sich so merkwürdig verhalten und Regeln aufstellen, an die sie sich selbst nicht halten oder die widerspüchlich sind! Vielleicht ist diese negative Einschätzung des Wissenschaftsbetriebes aber nur das Produkt meiner verkorksten subjektiven Wahrnehmung? Muß ich einfach begreifen, dass ich mich wohlfühlen könnte, wenn ich nur nicht so kompliziert wäre?

Ich frage mich, ob ich meine Arbeit wirklich aufgeben muß, damit dieses Gefühl, dass irgendetwas falsch ist, verschwindet? Paßt der Beruf wirklich nicht zu mir? Leider ist das Konzept, dass etwas nicht zu mir paßt, in meinem Kopf nicht sehr stark verankert. Ich habe gelernt, dass alles zu mir paßt, wenn ich mich nur genug anstrenge oder meine Sichtweise, mein Verhalten, ändere. Vielleicht würde ich wunderbar in die Wissenschaft passen und die Arbeit würde mir mehr Zufriedenheit geben, wenn ich die Ansprüche an meine Arbeitsweise reduzieren und in Kauf nehmen würde, dass eben nicht alles glatt läuft? Was mich auch skeptisch macht ist die Tatsache, dass es in meinem Leben immer ein Thema gab, das mich gedanklich beschäftigte. Früher war es mein Gewicht. Dann war es die Trennung von meinem ersten Mann. Jetzt, nachdem diese beiden Bereiche geklärt sind, habe ich den Eindruck, mir Probleme zu schaffen, wo eigentlich keine sind. Ich komme mir schlecht vor, wenn ich sehe, worunter andere Menschen zu leiden haben und über welche Nichtigkeiten ich mir demgegenüber Gedanken mache. Ich wollte nie so sein wie meine Mutter und jetzt bin ich genauso unzufrieden und ziellos. Sollte ich irgendwann mal Kinder haben, gebe ich ihnen die ganze Unzufriedenheit möglicherweise weiter! Eine schreckliche Vorstellung.

Alles in allem kann ich meine Eltern nur beglückwünschen, dass ihre Erziehung einen so durchschlagenden Erfolg hatte… Wieder ein Erwachsener, der mit seinem Leben nicht zurecht kommt und kein Vertrauen zu sich selber hat. Was mich wütend macht ist die Tatsache, dass meine Eltern immer geglaubt haben, sie hätten ihren Kindern die beste Erziehung angedeihen lassen, die möglich ist. Und nach außen hin ist dieses Bild der perfekten Eltern auch noch makellos! Es ist mir unbegreiflich, wieso meine Eltern so dumm waren und sich so wenig über sich selbst und ihr Verhalten Gedanken gemacht haben! Und dabei wollten sie mir noch weismachen, dass sie alles wissen und ich von nichts eine Ahnung habe! Die Aufgabe der zermürbenden Selbstkritik und Selbstreflektion haben sie mit Erfolg an ihre Tochter weitergegeben.

Zurück zu meinem konkreten Problem: Ich habe den Eindruck, die Lösung liegt auf der Hand, aber ich sehe vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Ich habe das Gefühl, dass mir eine entscheidende Einsicht fehlt, um alles zu begreifen. Ich fühle mich in meinem mangelnden Verständnis so hilflos. In meinem Kopf bin ich überzeugt, dass wenn ich nur verstehen würde, ich auch wüßte, was zu tun ist. So bin ich zur Untätigkeit verdammt, obwohl ich im Allgemeinen keinerlei Schwierigkeiten damit habe, Dinge in die Tat umzusetzen, sofern ich einmal begriffen habe, wo das Problem liegt.

Mir hilft dieser Brief schon dadurch, dass ich ihn schreiben kann und weiß, dass es Menschen gibt, die etwas damit anfangen können. Das hätte ich mir früher nie träumen lassen und ich danke Ihnen dafür. Sie können ihn gerne veröffentlichen, wenn Sie möchten. Ich würde mich freuen, wenn Sie mir einen Rat geben können, wie ich mir mehr Klarheit verschaffen kann.

Vielen Dank für Ihr Engagement und ihre Bücher!

Viele Grüße, S. R.

AM: Sie schreiben: “Ich habe den Eindruck, mir Probleme zu schaffen, wo eigentlich keine sind. Ich komme mir schlecht vor, wenn ich sehe, worunter andere Menschen zu leiden haben und über welche Nichtigkeiten ich mir demgegenüber Gedanken mache.” Wer sagt das? Sind Sie so sehr mit der Sichtweise Ihrer Eltern identifiziert, dass Sie Ihr Leiden als Kind bagatellisieren, ohne es zu merken? Als ich das las, wollte ich Sie auf meine Bücher hinweisen. Aber Sie haben Sie ja alle schon gelesen, schreiben Sie. Haben Sie auch die Revolte des Körpers gelesen und meine letzten Artikel? Wenn Ihnen das Schreiben guttut, versuchen Sie im Schreiben einen Dialog mit dem kleinen Mädchen herzustellen, das Sie einst waren, und es zu fragen, wie es sich damals fühlte, als es geohrfeigt wurde. Kann sie sich noch erinnern, WESHALB sie einmal “versohlt” wurde? Ich denke, dass es Ihnen auf diesem Weg vielleicht gelingen könnte, mit Ihren starken, aber blockierten Emotionen in Berührung zu kommen. Ich glaube daran, weil Sie es klar machen, dass Sie das wollen. Dass dieser Wunsch mit der Angst vor Ihren Eltern verbunden ist, braucht uns nicht zu wundern, das ist ja die Regel. Aber Sie scheinen doch, sich zu suchen, immer wieder, also werden Sie die Angst eines Tages überwinden. Das wünsche ich Ihnen für die Zukunft.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet