Wozu Missionieren?

Wozu Missionieren?
Monday 09 March 2009

Sehr geehrte Frau Miller! Ich arbeite mit psychisch kranken Menschen, berate und leite eine Selbsthilfegruppe in Wien und bin überzeugte Anhängerin der Bedeutung der Kindheit für die Entstehung dieser Krankheiten, auch wenn mir in meiner Ausbildung 90% der Lehrenden das Gegenteil erzählt haben und man immer nur Genetik, Genetik, Anlage usw. hört. Ich habe immer schon einfach den KlientInnen zugehört, und zwar Jahre, bevor ich studiert habe oder irgendwelche Fachbücher und Theorien, auch Ihre, kannte, und ich habe immer wieder die selben Muster gesehen, bei so ziemlich jeder Erkrankung, ob Schizophrenie, Magersucht, Depression, vollkommen egal. Und glücklicherweise gab es später dann ab und zu schon Fachleute, die nicht blind waren und uns kostbare Ratschläge gaben. Genau diese waren es immer auch, die wirklich Heilung erzielen konnten. Ich bin der Meinung, dass jede psychische Krankheit mit der richtigen Begleitung heilbar ist, doch da stimmt mir kaum ein/e ExpertIn zu, viele sagen, dass etwa Schizophrenie nicht heilbar, weil ja genetisch sei. Ich habe aber bei den Schizophrenen dieselben Muster gesehen und glaube nicht, dass ich mich irre? Die Meinung anderer ExpertInnen, seien es PsychologInnen, PsychotherpeutInnen (hier in Österreich haben wir mittelerweile 21 anerkannte Richtungen oder “Schulen”) oder PsychiaterInnen, ist es aber nicht, was mich manchmal verzweifeln läßt, sondern die felsenfeste Überzeugung von manchen Betroffenen, dass ihre Eltern nichts, aber auch gar nichts mit ihrer Erkrankung zu tun haben. Sie sagen “Vielleicht WILL ich meine Eltern ja gar nicht schützen, sondern kann an ihnen wirklich nichts “Schuldhaftes” erkennen.” Und dass, obwohl deren TherapeutInnen eben keine sind, die den Mund verbieten und die Eltern schützen wollen, sondern das Gegenteil! Wie kann ich jemandem, der sich so sehr dagegen wehrt, helfen? Oder eine Bekannte erzählt, dass sie jetzt schon zehn Jahre Therapie macht, und die Therapeutin (die ich ebenfalls kenne und wirklich schätze) immer mit ihr über die Kindheit spricht und niemals die Eltern in Schutz nimmt, sondern das Gegenteil und diese Frau hat immer noch schreckliche körperliche Symptome, nach acht Jahren Therapie, obwohl sie schon besser sind als vorher. Kann es wirklich mehr als acht Jahre dauern, bis man gesund ist, auch wenn man eine so gute und einfühlsame und nicht leugnende Begleitung hat? Manchmal zweifle ich dann daran, dass ich die Muster, diese ähnlichen Muster in der Kindheit all dieser Menschen, die sich dann auch in der Körpersprache, in Denken, Verhalten und Handeln und nicht zuletzt in der Krankheit wirklich sehen kann, wenn Menschen das so hartnäckig leugnen und betonen, in ihrer Kindheit, da war gar nichts und selbst von der Genetik so überzeugt sind. Ich fühle mich dann hilflos. Dass ich viele, wenn auch lange nicht alle, FachkollegInnen gegen mich habe, das hat mich nie gestört. Aber wie kann ich helfen, wenn die Betroffenen selbst sagen, da war gar nichts in der Kindheit, die war schön und in Ordnung, und es ist Genetik und dann andere Gruppenmitglieder anfangen, die Ursachen bei den Eltern auch wieder zu bezweifeln, obwohl sie sie anfangs ganz klar sehen konnten? Dass TherapeutInnen den KlientInnen ausweichen und ablenken, wenn sie auf die Kindheit zu sprechen kommen, ist häufig und mir wohlbekannt. Aber dass ich als Psychologin praktisch von den KlientInnen immer zu hören bekomme, dass das mit den Eltern/frühen Bezugspersonen/der Kindheit eben nicht stimmt und ich daran nicht so glauben soll und sonst nicht helfen könne, weil ich mich quasi in was versteife, das habe ich so nicht erwartet. Wenn ich von wissenschaftlichen Beweisen und der Säuglingsforschung und dem unausgereiften Gehirn bei der Geburt und der Bedeutung der ersten Lebensjahre bei der Entstehung der Krankheiten spreche, wird mir gesagt, man kann alles beweisen, was man will und es gibt auch in der Wissenschaft dauernd Fehler und vieles, was früher als wissenschaftlich erwiesen galt, ist jetzt widerlegt, und das mit den Eltern wurde auch schon widerlegt (ein schizophrener Klient brachte mit folgenden Artikel mit: http://www.sgipt.org/medppp/schizo/haefn0.htm und meinte, da wäre das Gegenteil wissenschaftlich erwiesen, dass eben die Eltern keine wesentliche Rolle spielen und dadurch früher den “armen Eltern” – und diese Anführungszeichen stammen von mir – von den Psychoanalytikern so enorme Schuldgefüle gemacht wurden und dass dieser Trend, die Eltern zu beschuldigen, schon vor langer Zeit widerlegt worden wäre. Und warum er denn meinen “wissenschaftlichen Beweisen” glauben sollte und nicht diesen dort.) Ich weiß manchmal nicht, wie ich damit umgehen soll. Nun, ich wollte eben mal diese Seite schildern, weil bei den meisten der Leserbriefe auf ihrer Webseite – was mir wie gesagt von KollegInnen und AusbildnerInnen wohlbekannt und eine traurige Tatsache ist – Betroffene von ihren Problemen mit den TherapeutInnen/PsychologInnen/ÄrztInnen berichten und hoffe, dass Sie zu meinen Fragen vielleicht ganz kurz Ihre Ansicht darlegen könnte. Auch über Feedback von LeserInnen ihrer Seite würde ich mich sehr freuen! Mit vielen Grüßen und Dank für Ihr großartiges Werk, CC

AM: Man kann niemanden dazu zwingen, Mut zu haben. Wenn jemand eine panische Angst hat, sich in seiner Kindheit umzuschauen, wird er dafür gute Gründe haben. Weshalb wollen Sie gerade diese Menschen aus ihrer Verleugnung befreien, die das nicht wollen, weil sie nur in ihr ihren Schutz suchen? Es KANN passieren, dass diese Leute in 20 Jahren von sich aus für ihre Wahrheit offener sein werden, aber sicher nicht, weil Sie ihnen JETZT Argumente liefern, die ihnen Angst machen. Ein solcher missionarischer Eifer kann sogar gefährlich sein. Wenn Ihnen nämlich jemand aus lauter Opportunismus zustimmt, um Ihnen zu gefallen, oder weil er sich davon Vorteile verspricht, dann kann die unverarbeitete Angst des kleinen Kindes in ihm schließlich doch noch die Oberhand gewinnen. Dann kann diese Person mit einer schwersten Verwirrung für ihre Anpassung bezahlen. Als Kinder wollten viele von uns unbedingt unseren Eltern helfen, die unsere Argumente gar nicht verstanden haben und diese gar nicht ernst nahmen. Aber als Erwachsene können wir WÄHLEN, wem wir helfen wollen und wem NICHT; wenn es gar keinen Sinn macht, dann eben nicht. Wozu diese Anstrengung, die niemandem nützt?

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet