Die grausame Passivität

Die grausame Passivität
Wednesday 20 January 2010

Liebe Frau Miller, VIELEN DANK für alles, Ihre Bücher und Ihre Site!
VIELEN DANK ebenso, an alle Leserbriefschreiber/Innen, für die Gewährung der Einsicht in Euer Leben auf dieser Site! Hier mein Beitrag:

28.11.2009 Brief an den Vater

Ich war noch sehr klein und in meinen kindlichen Erwartungen noch arglos. Mit IHR verbrachte ich ja den ganzen Tag. Ich freute mich, wenn DU von der Arbeit kamst und einfach da warst. Ich kletterte zu DIR aufs Sofa und wollte mich an DICH schmiegen. Da pfiff SIE mich zurück. Ich sollte DICH “in Ruhe lassen”. Das kannte ich ja schon. Auch auf Opa durfte ich nicht herumklettern, der tat dann so, als ob er schlief. DU hast überhaupt nicht auf mich reagiert, einfach dagesessen und SIE bestimmen lassen. Die wenigen Male, die DU mich auf DEINEN Schultern trugst, wenn wir spazieren gingen und ich nicht mehr laufen konnte und wenn ich an DEINER Hand gehen durfte, waren dann natürlicherweise vorbei, sobald ich dann stärker und selbstständiger wurde.

DU hast interesselos alles geglaubt, was SIE DIR erzählt hat über DEINE Kinder. SIE log DICH ja auch an, genauso, wie SIE DICH bei ihren Töchtern und anderen Leuten schlecht machte. Wie sehr bemühte ich mich um DEINE Aufmerksamkeit und DEINE Wahrnehmung um DIR die Wahrheit erzählen zu können. Aber DU hattest ja immer was zu tun, hattest nie die Zeit, um zuzuhören und DICH um solche Sachen zu kümmern. SIE war so aktiv in IHREM Verfolgungskrieg mit IHREN Kindern, dass schon DEINE väterliche Untätigkeit mir wie eine Wohltat vorkam. Hätte ich DEINE völlige Interesselosigkeit an uns Kindern realisieren können, wäre ich wohl vor Verlassenheit irgendwie zu Tode gekommen. Denn niemand kann leben, wenn er niemanden mehr zum Lieben hat. Der Rettungsring zum Überleben warst in meinem Falle DU, der Unzugängliche, der Uninteressierte, der Zurückweisende. Daran kannst DU sehen, wie schlimm SIE wirklich gewesen ist.
Während SIE uns aktiv zu zerstören suchte, hat DEINE Passivität dafür gesorgt, dass wir IHR völlig ausgeliefert waren.

DU schautest teilnahmslos zu, wenn SIE uns schlug. DU schautest einfach durch unser Leiden hindurch, um es nicht bemerken zu müssen. Und DU hast keine andere Antwort gehabt, wenn ich DICH allein versuchte, um Hilfe zu bitten, als: “Du musst aber auch der Mutti gehorchen und ihr nicht immer so viel Ärger machen.” Mir klappte der Mund zu vor Empörung und Sinnlosigkeit angesichts dieser Wahrheitsverdrehung. DU hast DICH einfach in DEINE Arbeitssucht gestürzt, DICH dahinter versteckt, Augen und Ohren verschlossen vor dem Leid DEINER Töchter. DU hast versäumt IHR Grenzen zu setzen. Ich war diejenige, die sich wünschte, dass DU sie endlich verprügelst. DU tatest es nicht, egal was SIE uns oder DIR antat.

DU wolltest DICH lieber nicht mit IHR anlegen. Aber DU warst erwachsen. Wir waren Kinder, DEINE Kinder. DU hast uns allein mit IHR gelassen.
Ich erinnere mich, dass DU dabeistandest, wenn SIE uns kleine Mädchen schlug. Mit ca. 12 Jahren dann hast du mich einmal verprügelt. Ich hatte die Kartoffeln nicht geschält, wie SIE es mir aufgetragen hatte und ihr: “Vati, jetzt mach du doch auch mal was … ” genügte DIR, mich wütend zu verprügeln, weil: “… warum musst du MIR immer solche Schwierigkeiten machen …” SIE stand mit zufriedenem Grinsen dabei, SIE hatte wieder mal gewonnen.

DU hast DICH niemals eingemischt, um IHR ständiges Zetern und Streiten mit den Kindern zu beenden. DU hast niemals deine Meinung vertreten oder Partei für irgendetwas ergriffen, außer für DICH selbst, für DEINE Ruhe. Dafür hattest DU Magenprobleme und DEINE Kinder hatten auf DICH Rücksicht zu nehmen, DICH nicht zu strapazieren. Es machte DIR nichts aus, dass SIE in DEINER Anwesenheit sogar das uns Kindern vorhielt, wenn wir versuchten IHR zu widersprechen. Um DEINETWILLEN hatten wir den Mund zu halten und IHR ohne Rechte zu gehorchen.

DU hast mein Leiden nicht gehört und gesehen. Damals als wir zusammen bauten konnte ich schon besser argumentieren. Ich flehte DICH an, SIE zu verlassen. Dieser Haus-Bau, für den wir alle in jeder Hinsicht zurückstecken mussten und der letztendlich nur IHRER war, war mir egal. Ich wollte, dass DU mit mir weggehst von IHR, damit es uns besser gehen sollte. DEINE Antworten waren alle Variationen von: “Ich weiß nicht was du willst… das geht doch alles nicht so einfach… die Welt ist nicht so, wie du sie dir vorstellst…”
Letztendlich sagtest DU weder Ja noch Nein. Und ich konnte DICH von nichts überzeugen. Du hast die Situation einfach so gelassen, einfach unverändert und stur weitergemacht wie bisher!

Diese Antworten waren noch die mildere Form DEINER Reaktion auf mich. Einmal bei Tisch, da warst DU aufgebracht über meine Versuche, DICH zu einer Stellungnahme zu irgendwas zu kriegen, da hast DU mir nachdrücklich erklärt: “Und wenn du mir einen Kranz auf den Tellerrand kackst, dann esse ich trotzdem weiter, das stört mich überhaupt nicht!”
Ich konnte damals nicht glauben, dass DU das tatsächlich genauso und ernst meinst und habe diesen Satz erst heute wieder erinnert. Ich konnte natürlich nicht begreifen, dass sich jemand mit einer Situation des Leidens zufrieden geben konnte, wenn draußen die Welt und das Leben offensichtlich größer war und anders sein konnte, als bei uns zu Hause. All die vielen Möglichkeiten anders zu leben, blieben mir verschlossen, weil es DICH nicht interessierte. Ich nahm das so hin, verlangte nicht mehr als ich bekommen konnte, aus Rücksicht auf DICH, um DIR “keine Probleme” zu machen.
Jetzt erst kann ich den Gedanken zulassen, dass DU damals damit tatsächlich die Wahrheit über DEINE Einstellung zu den Dingen des Lebens geäußert hast.

Ich half DIR beim Bauen, weil DU mir leid tatest; ich sah, wie sehr SIE DICH ausbeutete. Und ich verachtete DICH gleichzeitig, dass ich DIR (!) überhaupt helfen musste. Doch auch das konnte ich damals nicht bewusst wahrnehmen.
Ich bemitleidete DICH, hielt aus und sehnte mich nach DEINER Anerkennung. Denn DU warst gleichzeitig auch stark, fähig, ruhig und vernünftig – beim Arbeiten. Und ich lernte durch das Bauen auch, die Kraft meines Körpers, den SIE mir immer madig geredet hatte, zu schätzen und insgeheim auszubilden. Ich bekam wieder etwas Stolz und Zutrauen, da DU mein Zuarbeiten annahmst, ich also entgegen IHRER Behauptungen doch zu etwas nutze war …
Aber gelobt hast DU mich nie. Auch hier verharrtest DU in DEINER bekannten Passivität. DU hast mich trotz meiner Leistungen FÜR DICH niemals gegen SIE verteidigt. Nichts änderte sich an meiner Situation.

Ich wollte später sterben, so sehr hast DU mich immer wieder zurückgewiesen und im Stich gelassen.
Ich tat es nicht. Ich schrieb mir einen Zettel, den ich einem meiner Bücher versteckte, eine Botschaft an mich selbst, später. Und als ich tatsächlich viel später diesen Zettel wieder fand, schämte ich mich für mein “theatralisches Leiden” noch mal im Nachhinein. Denn ich hatte inzwischen vergessen, dass ich mir gewünscht hatte, in Heim zu kommen, um endlich jemanden zu haben, der mir zuhört. Ich stellte mir das als Erleichterung meines Lebens vor. Aber ins Heim kamen ja nur schwererziehbare – das traute ich mich nicht und so wollte ich auch nicht sein. Und auch die Chance Hilfe zu finden, wenn ich einfach weglief und mich von jemandem finden ließ, der mir dann gegen SIE helfen würde, schätzte ich sehr niedrig ein. Und da SIE nicht Auto fuhr, konnte SIE ja auch noch nicht mal verunglücken …
Stattdessen stellte ich mir für später die Möglichkeit in Aussicht, nach Australien auszuwandern und ließ mir tatsächlich Prospekte schicken.

Im Alter von 16/17 Jahren fuhr ich mit dem Rad ins Dorf und begegnete DIR überraschend auf der Straße. Ich grüßte DICH. DU schautest auf, stutztest. Erst dann erkanntest DU mich und lächeltest schüchtern und unbeholfen. Ich empfand es damals so, als wärest DU einer alten Liebe begegnet und wüsstest DICH nicht zu verhalten. Ich empfand ja selbst so, wenn ich einen Mitschüler traf, der mich interessierte. Ich war verwirrt über diese Reaktion von DIR. Diese verlegene Form der Unsicherheit und Zaghaftigkeit an DIR war mir noch nicht bekannt.
Vielleicht fühltest DU DICH irgendwie erwischt – DEINE Arbeit war DEIN persönlicher Freiraum. Vielleicht war diese Art aber auch nur DEIN übliches Verhalten draußen – dieses Zerstreute, das ich von drinnen ja schon von DIR kannte. So brauchtest DU nicht von dem mitbekommen was da lief. Es sollte DICH wohl auch hier draußen vor den Verpflichtungen gegenüber “den Leuten” schützen. Aber hier warst DU plötzlich freundlich zu mir!!! Und DU hast mich geradewegs angeschaut!!! DU hattest mich tatsächlich wahrgenommen!!!

DU warst wohl überrascht, mich eigenständig hier draußen, außerhalb des familiären Rahmens anzutreffen. Da DU mich/uns zu Hause ja nicht zur Kenntnis nahmst, erstaunte DICH mein Anblick. Ich war tatsächlich erwachsen geworden, ohne dass DU es bemerkst hattest. Und ich trug außerhalb des Hauses einen anderen Ausdruck als drinnen, unter IHRER Fuchtel.
Und wenn ich DIR gefallen habe, warst DU nicht stolz auf mich – zu Recht, denn ich war ja nicht DEIN Werk. DU warst nicht mein Vater, DU warst lediglich der, der mich gezeugt hatte… So, wie SIE nicht meine Mutter war, sondern nur die Frau, die mich geboren hat.

DEINE Verunsicherung in dieser Situation wurde damals zu meiner. Denn zu Hause ignoriertest DU mich wieder. Da warst DU wieder der verschlossene, abgewandte, desinteressierte Mensch, der DU immer für mich gewesen warst. Ich wusste lange nicht, wie ich DEINE Reaktion bei dieser Begegnung draußen einschätzen sollte. Gewünscht habe ich mir damals von DIR Bestätigung und dein Verhalten als solche entschieden.

DU warst die ganze Kinderzeit über meine einzige Hoffnung. DU hast sie immer wieder enttäuscht. Zurück blieben mir nur Selbstzweifel und Einsamkeit. Vielen Dank!
All die Jahre dachte ich, ich hätte DICH geliebt, heimlich. Was für eine Illusion! Aber ich brauchte sie als Kind, um zu überleben. Ich brauchte die Hoffnung, wenigstens DU wärest liebenswert gewesen. Dabei konnte ich doch gar nicht wissen, was Liebe ist – woher denn auch – DU hattest es mir nicht beigebracht. Es war lediglich meine SEHNSUCHT nach Liebe, mit der ich meine Einsamkeit verhüllte, entstanden durch DEINE Ignoranz und Zurückweisungen. Mehr hast DU mir nicht hinterlassen!!!

Als DU dann ernsthaft krank wurdest, konnte ich DEINEN physischen Verfall bei meinen Besuchen zu Hause miterleben. DU konntest nicht mehr arbeiten, DEINE Lebensstrategie funktionierte nicht mehr … DU hattest tatsächlich noch nicht mal einen eigenen Platz, keine Rückzugsmöglichkeit in IHREM Haus, das DU IHR aufgebaut hattest. DU klagtest und littest gesundheitlich und emotional, warst hilflos. SIE klagte auch, nämlich wie sehr DU IHR bei IHRER Hausarbeit im Wege seiest und immer nur herumsitzen würdest. Wieder tatest DU mir leid. Ich versuchte DICH aufzumuntern, mit DIR spazieren zu gehen, freundlich zu DIR zu sein. Wenn wir dann aber wieder zurück waren, zu Hause bei IHR, warst DU wieder einer Meinung mit IHREN den zänkischen, rechthaberischen Spötteleien, die SIE für den richtigen Ton bei IHREN Gesprächen mit mir hielt. Es war eines Tages unabwendbar, dass ich zu IHR sagte: Ich gehe und komme nicht mehr wieder. SIE winkte nur ab: Reisende solle man nicht aufhalten … DU hast zustimmend dazu genickt! Ich ging und kam tatsächlich nie wieder. Erst zur Vorbereitung zu DEINER Beerdigung kam ich noch mal zurück. Dieses Zusammentreffen führte mir nochmals die Familiensituation meiner Kindheit vor Augen. Es hatte sich nichts verändert. Ich war erschüttert. Ich konnte noch nicht mal weinen. DEINE Beerdigung fand dann ohne mich statt.

Als ich mit Anfang 30 dann völlig ratlos über mich selbst meine alte Lehrerin besuchte, um sie über mich als Kind zu befragen, brachte ich sie nach einigem herumwedeln zu folgendem Ausbruch: “Deine Mutter war eine rechthaberische raffgierige Hexe, der ich nicht aufs Fell gucken konnte und die keine andere Meinung als ihre und niemand anderes neben sich gelten ließ. Ich habe niemals mit ihr gesprochen. – Aber dein Vater war ein armer gebeugter Mann … “
Hilflos entgegnete ich ihr: aber ER war wenigstens ein schöner Mann. Damit wollte ich wohl intuitiv IHRE umfassende Hässlichkeit ausgleichen, um als ehemaliges Kind dieser Eltern überhaupt weiterleben zu können.

Über ihr Urteil über SIE war ich sehr froh. Konnte ich doch daraufhin die bereits unter der Oberfläche drängenden eigenen Empfindungen von IHRER Feindschaft gegen mich ans Tageslicht bringen. Ich hatte bis dahin doch immer noch gedacht, alle wären ebenfalls IHER Meinung gewesen, da niemand in meinem Beisein IHR jemals widersprochen hatte.
Dagegen war ich empört über ihre Bemerkung über DICH – als ob ich das als SEIN Kind nicht alles selber und besser gewusst hätte. Ich hatte DIR doch helfen müssen, weil DU so gebeugt warst!!! Ihre Einschätzung über DICH jedoch ließ mich weiter in meiner Anspruchslosigkeit verharren, die ich durch DICH, durch DEINE Passivität für mich als angemessen zu akzeptieren gelernt habe. DU hattest offensichtlich auch das Mitleid meiner Lehrerin gehabt (vielleicht weil du ein schöner Mann warst) und vermutlich auch das, aller anderen! Ich hatte gar nichts!!!

AM: Sie beschreiben Ihr Leiden neben einem Vater, der sich ganz konsequent jeder Kommunikation entzieht. Ihr Brief zeigt, dass Sie jetzt mit dem Kind, das Sie waren, fühlen können und ganz klar sehen, wie grausam dieser Rückzug Ihres Vaters für Sie war, wie vernichtend er auf Sie wirkte. Diese Befreiung von den Illusionen ist für Ihr späteres Leben ein Segen: Sie sind aktiv geworden und werden nicht warten, das jemand Sie von Ihrer herrschsüchtigen Mutter befreit, wie Sie das bei Ihrem Vater so lange erwartet haben.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet