Die Eltern verstehen

Die Eltern verstehen
Monday 25 May 2009

Liebe Frau Miller,

gerne möchte ich Ihnen meine Erfahrungen zu den Leserbriefen vom 23.5. berichten. Es ist in Ordnung, wenn Sie dies nicht veröffentlichen, weil es sich vielleicht zu sehr nach Werbung anhören könnte. Aber ich möchte es Ihnen gerne schreiben.

Die Kindheit der Eltern anschauen, kann man machen, aber wozu? Ich habe gemerkt, dass es für die Gesundung meiner Patienten keine Bedeutung hat und die Gefahr der Verwirrung groß ist. Da gibt es hundert wichtigere Dinge zu betrachten. Und ich biete keine 100 Sitzungen an. Ich meine, eine echte “Psychotherapie”, die die Kindheit des Patienten aufdeckt, dauert gar nicht lange – bei mir höchstens 20 Doppelsitzungen (z.B. bei Schizophrenie). Voraussetzung ist allerdings, dass der Patient wirklich sehen will und bereit ist, sich auch alleine dem gefundenen kleinen Kind, das er einmal war, zuzuwenden.

Falls ein Patiemnt bei mir dennoch die Kindheit seiner Eltern betrachten möchte, was ich von mir aus nie anbiete, aber hin und wieder kommt es vor, so ist das natürlich möglich. Bei mir ist alles erlaubt, was der Wahrheitsfindung dient. Dass auch die Eltern Kinder waren und nicht als Monster geboren wurden, setze ich voraus.

Die reine Klärung, d.h. das Nachvollziehen, weshalb, wie und dass die Eltern so brutal geworden sind, hemmt nicht die berechtigte Wut und den Zorn. (Ich vermeide absichtlich das Wort “Verstehen”, weil es häufig Verständnis, Entschuldigung, Vergebung impliziert). Manchmal richtet sich der Zorn dann auch stark gegen die Großeltern. Aber er bleibt auch bei den Eltern, wo er hingehört. Denn es ist nicht wirklich wichtig, warum sie Monster geworden sind, sondern dass sie Monster geworden sind, denen der Patient als kleines Kind ausgeliefert war. Wenn er dieses Leid gefühlt hat und nicht mehr verleugnet, bleibt die berechtigte Wut, auch wenn er den Werdegang der Eltern geklärt hat.

Die entsetzliche, grausame Kindheit der Eltern weckt dann weniger Mitleid, sondern meine Patienten sind eher schockiert und entsetzt. Das Entsetzen stellt sich nicht nur über die schreckliche Kindheit ein, sondern über die Tatsache, dass die Eltern diese Kindheit später verherrlichen und ihre Eltern wiederum in Schutz nehmen. Denn der erwachsene Mensch hat eine Wahl, auch wenn sie nicht so einfach ist. Und diese Eltern haben sich entschieden, ihre eigenen Kinder zu quälen, um das eigene Leid nicht zu spüren. Diese Entscheidung der Eltern ist so brutal und grausam und findet nicht nur einmal statt. Immer und immer wieder entscheiden sich sich zum Verletzen, zum Demütigen, zum Schlagen etc. Bei jedem einzelnen Schlag hätten sie inne halten können, aber nein, sie haben sich jedes einzelne Mal, jeden Tag gegen ihr Kind und seine Bedürfnisse entschieden – bewusst und mit voller Absicht. Und nur um dieses geschundene Kind geht es dem Patienten, der gesund werden will.

Viele liebe Grüße

Anke Diehlmann

Liebe Frau Dielmann,
ich danke Ihnen, dass Sie mir zu diesem Thema geschrieben haben. Sehr oft begegne ich dieser Frage und muss immer wieder erklären, dass das “Verständnis” für das Leiden der Eltern als Kinder und das Mitleid für sie die eigene Therapie nicht fördert, sondern HEMMT. Wir haben ja als Kinder nichts anderes getan, als das Schreckliche, Absurde, Perverse verstehen zu wollen, aber das hat uns daran gehindert zu sehen, wie wir gelitten haben, und gegen die Verbrechen zu rebellieren. Ihre Erfahrungen bestätigen die meinen. Da die Wurzeln dieses Wunsches nach “Begreifen” sehr begreiflich sind, werden wir damit immer wieder konfrontiert. Aber dieser Wunsch ist irreführend, wie einer der Leser hier klar macht. Und leider spielt hier die religiöse Erziehung eine sehr wichtige Rolle, sie sagt, man müsse den Eltern vergeben, denn sie wollten IMMER das Beste. Und die Eltern geben das “gute” Beispiel, indem sie die Ahnen bewundern und ehren. In allen Kulturen ist es so.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet