Selbstachtung

Selbstachtung
Friday 13 February 2009

Liebe Alice Miller,

Ich fragte mich, worin besteht das Glück, zu sehen, was ich sehe? Wissen Sie was, eine meiner unentdeckten Fragen war lange Zeit, warum darf ich nicht weh tun? Warum darf ich nicht töten? Es müsste doch ein Glück sein, ebenso zu töten, wie meine Eltern und davon zu kommen. Ich hätte einmal gerne meinen Vater ausgegraben und ihm nachträglich noch den Schädel eingeschlagen. Ich glaube, dass auch diese verzweifelte Geste eine Art Mitleid mit ihm wiederspiegelte. Ich erwartete also Mitleid von einem Toten? Wollte ich ihn wecken? Ich fühlte mich vor ihm als Kind wehrlos und behandelt wie ein Toter. Ist das ein Glück, das zu fühlen? Ist das ein Glück, zu sehen was man tut, weil man es als Kind genauso von seinem Vater lernte?

Ist das ein Glück zu sehen, dass die Mutter eine Heilige darstellte?

Ich glaube, Sie haben recht. Es ist ein Glück. Es ist ein Glück zu sehen, wie sehr ich selbst den Heiligen spielte, wie sehr ich selbst mein Leiden als etwas besonderes ansah. Als wäre ich selbst etwas besonderes. Das musste ich wohl sein, sonst hätte ich dieses Heim, mein Zuhause nicht überlebt.

„Wie allein muss es sich fühlen, wenn es nie wahrgenommen wird, außer wenn es darum geht, seine Freude zu zerstören.“

Diesen Satz habe ich ihnen übel genommen. Darin fand ich mein Leiden zu klein und zu nebenbei begriffen. Das wurmte mich. Ich dachte mir, mein Leiden sollte mehr geheiligt und gepriesen werden. Ich nur eines unter allen Kindern? Meine Arroganz gefiel mir aber nicht mehr wirklich.

Dann traf mich ein Gefühl, dass immer, wenn ich mit meinem Leiden wucherte, mein Geist zurück in jenes Zimmer ging, in dem ich so allein gewesen bin als Kind von Anfang an. Mein Körper war allein und auch mein Geist war dort allein. Mein Geist, das waren meine Gefühle, bekam keine Reaktion zu spüren. Ich hatte das immer vergessen. Dass meine Töne, die Geräusche die ich machte, meine Sprache, von meinen Eltern unbeantwortet blieb. Ich war dort vollkommen allein. Und deswegen musste ich, wie wir alle, die dort gewesen sind, eine Strategie entwickeln um nicht vor Einsamkeit zugrunde zu gehen. Dort in diesem Raum bin ich zum begabten Kind um meinetwillen geworden. Dort musste ich, wie wir alle, zu etwas besonderem werden.

Ich weiß jetzt, warum Sie Alice Miller kein Guru sind. Sie wären immer noch in diesem Raum, in dem alle Gurus aufgewachsen sind. Diesen Raum der Kindheit zu verlassen, bedeutet schließlich aufzuhören etwas besonderes zu sein. Ist das ein Glück? Ich glaube schon. Denn plötzlich muss man nicht mehr tot oder heilig sein um mit sich und anderen zu fühlen. Ich weiß jetzt auch, dass ich diesen Raum nur mit meinem Kind, das ich einmal gewesen bin, verlassen konnte. Ich weiß, dass dieser Raum jetzt leer ist. Ich und mein Kind sind nicht mehr dort. Und die Begabung? Sie hat mich dort nur festgehalten, dort wo ich allein und etwas besonderes sein hatte müssen. Meine Begabung zum tot stellen und zur Heiligendarstellung ist verschwunden. Das freut mich sehr.

AM: Ich bin froh für Sie, dass Sie das entdeckt haben: Wir brauchen als Erwachsene nicht mehr die Begabung, um uns tot zu stellen, wir können uns leisten zu leben und unser Leben zu genießen, wenn wir einmal realisiert haben, wie wir als Kinder von „Heiligen“ daran gehindert wurden. Eine Muutter, die im Kind immer die Freude zerstört, zerstört eigentlich ALLES.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet