Frage zur Beantwortung von Leserpost
Saturday 22 September 2007
Liebe, sehr geehrte Alice Miller,
erst vor kurzem habe ich Ihre Bücher und Ihre Website entdeckt.
Ich möchte es für diesmal kurz machen: Für mich bedeuten Ihre Gedanken und Analysen eine echte Revolution (persönlich wie gesellschaftlich), und ich fürchte, daß es noch zwei bis drei Generationen brauchen wird, bis die in der Fachwelt bespöttelte „Unterkomplexität“ Ihres Ansatzes als das erkannt werden wird, was sie in Wirklichkeit ist: nämlich der Schlüssel zu der scheinbar „völlig rätselhaften“, wahrscheinlich „angeborenen“ Gewalttätigkeit des Menschen. . .
Herzliche Grüße,
C. B.
AM: Aus den Ihnen bekannten Gründen können wir nur einen Teil Ihres Briefes publizieren, doch wir tun es in der Meinung, dass Ihre Kritik, auf die ich hier eingehen möchte, möglicherweise auch andere interessiert. Sie kritisieren eine Antwort unserer Mitarbeiterin, weil sie der Briefschreiberin keine Ratschläge und keine Lösungsvorschläge in ihrer äußerst schwierigen Lage erteilt hatte, sondern nur ihre tiefe Empathie zum Ausdruck brachte. Wir respektieren Ihren Standpunkt und können ihn auch verstehen. Wo es uns sinnvoll und möglich erscheint, geben wir natürlich Anregungen. Doch es gibt auch Menschen, die noch gar nicht erfassen konnten, wie sehr das Schicksal in ihrem Leben zugeschlagen hat und sich selber für das schreckliche Leid beschuldigen, das sie erdulden mussten. Sie wollen tapfer sein, sich ja nicht beklagen und auf keinen Fall als Opfer angesehen werden. SIE schämen sich für die Taten ihrer Eltern; ihre Eltern zu beschuldigen, macht ihnen unendliche Angst, als ob die damalige Lebensgefahr ihnen immer noch drohen würde. Solchen Menschen Ratschläge zu geben, halten wir nicht immer für sinnvoll, weil es zunächst für sie darum geht, das ihnen zugefügte Leiden in vollem Ausmaße zu fühlen und zu sehen, wie MACHTLOS sie als Kinder waren, BEVOR sie heute ihre Kraft zum Handeln entdecken und sich aktiv für sich einsetzen können. Solange sie leugnen, dass sie Opfer WAREN, können sie sich nicht befreien. Ich bin daher der Meinung, dass unsere Mitarbeiterin genau richtig gehandelt hat, als sie auf Ratschläge verzichtete und ihre engagierte, differenzierte und ehrliche Empathie gezeigt hat, die der Schreiberin helfen kann, ihre Situation auch empathisch wahrzunehmen und mit dem Kind zu fühlen, das sie war.