Wenn die Peiniger alt und hilfsbedürftig werden

Wenn die Peiniger alt und hilfsbedürftig werden
Friday 06 July 2007

Sehr geehrte, liebe Frau Dr. Miller,

seit etwa einem Jahr lese ich immer wieder auf Ihrer Seite die Brief vieler Menschen und Ihre Antworten. So dass ich jetzt den Mut habe, Ihnen zu schreiben. Seit Ihr Buch die “Revolte des Körpers” erschienen ist, habe ich es bereits vier mal gelesen – und ich glaube ich werde es noch einige Male lesen. Immer wieder wird mir dabei bewusst, wie subtil ich Kränkungen, Missachtung usw. nicht wahrnehme. Aber es wird langsam immer besser.

Was mich beschäftigt ist ein Thema, das Sie in Ihren Büchern auch kurz ansprechen. Wie wirkt sich die Missachtung, Kränkung und Misshandlung durch die Eltern später aus, wenn die Eltern alt werden? Ich selbst habe seit meinem 20. Lebensjahr nur selten oberflächliche Kontakte mit meinen Eltern gehabt. Persönlich habe ich sie einmal im Jahr für 1-2 Tage gesehen. Mir war zwar mein ganzes Leben bewusst, dass ich meine Eltern am liebsten nicht sehen würde. Habe das aber immer voll Trotz gesehen und mich insgeheim doch für einen schlechten Menschen deshalb gehalten.

Erst als meine Mutter starb und meine beiden Schwestern und ich auf einmal mit einem sehr herrschsüchtigen und leicht pflegebedürftige alten Vater dastanden, ist alles aufgebrochen. Ich habe dann den größten Fehler meines Lebens gemacht und den Vater bei mir aufgenommen. Schon nach kürzester Zeit war klar, dass das nicht gut gehen konnte. Aber die Rente reichte nicht fürs Altenheim und so habe ich noch fast zwei Jahre durchgehalten bis er endlich ausgezogen ist.

In dieser Zeit ist mir erst bewusst geworden, wie schlecht mich mein Vater behandelt und dass das nicht nur jetzt -vielleicht durch Alter und Demenz bedingt, wie alle mir einreden wollten. Fast alle haben mir zu Nachsicht und Geduld geraten. Nur ein Sozialarbeiter einer Gerontopsychiatrie, deren Beratungsstelle ich in meiner Not angerufen hatte, war in der Lage sogar am Telefon in 10 Minuten mein Problem zu verstehe. Er hat mir klargemacht, dass nicht die Organisation seiner Pflege, sondern sein Verhalten mir gegenüber, das eigentliche Problem ist und ich für mich entscheiden muss, wozu ich bereit bin und wozu nicht. Mir wurde erst in dieser Zeit so richtig klar, dass mein Vater mich schon mein ganzes Leben lang schon so behandelt hat. Viele Szenen aus der Vergangenheit fielen mir ein und jetzt konnte ich sein gemeines Verhalten ganz klar sehen. Er hat mich immer verachtet, beschimpft, ausgenutzt und heruntergemacht. Mit meinen Schwestern war es das gleiche, dabei hat er immer versucht uns gegeneinander auszuspielen. Was ihm auch gelungen ist. Nach langem Ringen habe ich den Kontakt zu ihm und auch zu den Geschwistern, die jetzt voll auf seiner Linie sind, ganz abgebrochen. Dabei geht es mir zunehmend besser. Es hat mich immer soviel Kraft gekostet nach einem persönlichen Treffen alle Kränkungen zu verarbeiten. Ich vermisse ihn nicht und lerne langsam Schritt für Schritt auf meine Gefühle, meinen Körper zu hören und meine Bedürfnisse zu erkennen. Es gelingt mir nicht immer, aber immer öfter.

Nun beschäftigt mich immer wieder die Frage, dass es doch vielen Menschen so gehen wird. Sie wurden von ihren Eltern gequält und kümmern sich doch im Alter um sie. Wieviel unterschwellige Konflikte, Hass und Wut mag da in vielen Haushalten aufgestaut sein. Zumal die Gesellschaft immer darauf drängt, alte Menschen zu Hause durch Familienmitglieder zu betreuen. Ist das nicht wieder eine Ausbeutung oder eine Fortsetzung der Ausbeutung in der Kindheit? Sicherlich müssen alten Menschen die Hilfen erhalten, die sie brauchen, wenn sie alleine nicht mehr zurecht kommen. Aber können und sollen das dann in jedem Fall die eigenen Kinder sein, nur weil es billiger ist und dem System Kosten spart?

Da ich auch beruflich in der Pflege arbeite, höre ich täglich, wie schlecht Kollegen über die Angehörigen von pflegebedürftigen Alten sprechen. Dass sie sich nicht genug kümmern, so selten zu Besuch kommen oder nicht bereit sind Kosten aus eigener Tasche zu übernehmen usw. Widerspruch wird sofort niedergemacht und die armen Alten als bedauernswerte Opfer in Schutz genommen. Dabei wissen wir doch gar nichts aus deren Lebens- und Familiengeschichten. Ist es da ein Wunder, wenn die Angehörigen auch uns gegenüber aggressiv auftreten, wenn wir so eindeutig Partei ergreifen?

Geht es nicht vielleicht vielen so wie mir, dass wir erst im selbst schon fortgeschrittenen Lebensalter – ich bin jetzt 56 – merken, was mit uns geschehen ist. Nämlich dann, wenn die Eltern alt und hilfsbedürftig werden und wir den bisher künstlich aufrecht erhaltenen Abstand nicht länger aufrecht halten können. Es würde mich sehr freuen, wenn es dafür mehr Hilfestellungen und Beratungen auf der Basis Ihrer Erkenntnisse und Bücher geben würden.

Danke dafür, dass Sie den Mut haben, Ihr Wissen zu veröffentlichen und vielen Menschen dadurch Rückendeckung für die (Wieder)gewinnung ihrer Selbstachtung schenken.

Es grüßt Sie ganz herzlich, U.B.W.

AM: Genau darum geht es: Um die Gewinnung der Selbstachtung, die man nie haben durfte. Sie haben die Revolte verstanden, jetzt geht es nur noch, die Erkenntnisse zu leben. Auch Ihr Körper scheint es verstanden zu haben. Ich gratuliere Ihnen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet