Wiedergutmachung von Misshandlung?

Wiedergutmachung von Misshandlung?
Monday 24 July 2006

Sehr geehrte Frau Dr. Miller,

herzlichen Dank für ihr Lebenswerk der Kindheitsforschung. Ihre Erkenntnisse haben Einiges an Entwicklung in meinem Verhältnis zu meinen Eltern katalysiert und Entscheidungen befestigt.

Vor einem knappen Jahr habe ich Ihnen bereits geschrieben, aber Sie haben mir leider nicht antworten können.

Schon lange hatte ich meine Eltern innerlich abgelehnt, weil sie unehrlich, gewalttätig und immer nur an ihrem schmutzigen, kleinen Vorteil interessiert waren und sind. Seit ich mit 19 aus dem Haus ging, habe ich den Kontakt mit ihnen zunehmend reduziert und bin dafür von ihnen und von Verwandten immer wieder gerügt worden.

Irgendwann ergab sich eine Korrespondenz, in welcher ich meine Eltern mit ihrem unverschämten Verhalten konfrontierte. Sie führte letztlich dazu, dass mein Vater mir den Kontakt verbot.

Ich habe inzwischen „Am Anfang war Erziehung“ und „Revolte des Körpers“ gelesen und kann Ihre Entdeckungen und Aussagen voll und ganz bestätigen. Besonders schockiert haben mich Ihre Zitate aus Erziehungsschriften. Dieser Dreck ist an Perfidie und Grausamkeit fast nicht mehr zu überbieten. (Nur Berichte über familiäre Gewalt in einigen muslimischen Ländern können dies noch überbieten!) Ich bin Gott dankbar für die Einrichtung der Hölle. Dieser Ort ist gerade richtig für solches Pack, welches nichts als asymmetrische Kriegsführung gegen hilf- und arglose Kinder im Sinn hatte und diese Gemeinheiten auch noch als erziehungswissenschaftliche Erkenntnis vermarktete.

Diese entsetzlichen Fakten haben die letzten Rudimente von Barrieren weggefegt, die meiner vernichtenden Kritik am „Elternhaus“ noch im Weg gestanden hatten.

Inzwischen habe ich, wie gesagt, gar keinen Kontakt mehr zu meinen Eltern. Mein Vater hatte sich nochmals bei mir brieflich gemeldet und mir geschildert, welche schlimmen Dinge er in im Krieg erlebt und diese doch schließlich auch völlig unbeschadet überstanden habe. Ich habe ihm geantwortet, dass er schließlich nicht als Kind, sondern als Erwachsener Mensch von 23 Jahren und dazu noch völlig freiwillig auf Menschenjagd-Safari in den Kaukasus gezogen ist, um sich einen Sieg über andere Menschen zu gönnen. (Das weiß ich aus seinen eigenen angeberischen Erzählungen!) Und nachdem aus diesem Sieg nichts geworden war, hat er sich an seinen Kindern schadlos gehalten.

Das war für seine alte Nazi-Seele dann doch zu viel Offenheit. Solche Typen sind trunken von der Vorstellung, sie seien Götter und jede Kritik an ihnen Gotteslästerung. Er brach den Kontakt ab und verbot mir, mich je wieder zu melden, außer wenn ich Demut, Respekt und Dankbarkeit gelernt hätte. Nun gut, darauf kann er warten bis die Hölle zufriert!

Auch schrieb er mir das Vierte Gebot ins Stammbuch. Aber da hat er die Rechnung ohne den Herrn gemacht. Im Gegensatz zu meinen gottlosen Eltern kenne ich die Bibel sehr gut und weiß, dass Gott mit Ehre gegenüber den Eltern lediglich zwei Dinge meint: Erstens einen Beitrag zu ihrer Alterssicherung (Markus 7,10-13), so dass sie im Alter nicht in der Schande des Bettelns leben müssen. Das ist in Ländern mit staatlich organisierter Altersicherung obsolet. Und zweitens, dass man als Schutzbefohlener den Eltern keine Unehre durch Ungehorsam macht. Letzteres gilt allerdings nur in Dingen, die Gott gefällig sind. Das Prinzip „man muss Gott mehr gehorchen als Menschen“ gilt auch in der Eltern-Kind-Beziehung. Der Herr sagt sogar: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert.“ (Matthäus 10,37) Vor allem verbietet Gott den Eltern, Kinder zum Zorn zu reizen (Epheser 6,1-4). Die Kinder sollen gottgemäß erzogen werden, – d.h. in Liebe zur Liebe! Übrigens gilt die Gehorsamspflicht gegenüber den Eltern nur, solange man noch in ihrer Obhut lebt, denn die Bibel lehrt: „Der Mensch wird Vater und Mutter verlassen …“. (Epheser 5,31)

Mir hat die Dummheit meines Vaters, den Kontakt abzubrechen, einen Trumpf in die Hand gegeben, denn ich sage bei Verwandten und Bekannten, dass mein Vater schon immer gewalttätig gewesen ist, was man daran erkennen kann, dass er nun auch noch den Kontakt untersagt hat! Ich jedenfalls lehne jede Verantwortung für diesen Zerbruch ab.

Dann tritt entweder betroffene Ruhe ein, weil Vielen die Vorstellung fremd ist, dass man verwandtschaftliche Beziehungen nicht einfach kündigen kann, oder es wird nachgefragt, was denn alles in meiner Kindheit passiert ist. Und dann erzähle ich gerne und offen von der Gewalt, die mich oft fast das Leben kostete, und darüber, wie mich meine Eltern als 5-Jähriger durch Vernachlässigung an einer tuberkulösen Meningitis haben todkrank werden lassen und ich ein Jahr in einem Krankenhaus 200 km von zuhause verbringen musste, wo mich meine Eltern einmal pro Monat besuchen kamen. Und ich berichte, wie meine Mutter mittels ganz gezielter Gewalt gegen meinen Kopf einen erneuten Ausbruch dieser Krankheit provoziert hat, um mich zu terrorisieren und einzuschüchtern. Und davon, dass mir mein Vater bereits im Kindesalter drohte, mich aus dem Haus zu werfen. (Letzteres hat mich gedanklich und emotional unabhängig werden lassen, weil mir bereits als Kind klar war, dass die Aufkündigung der Sorgepflicht gegenüber einem noch unselbständigen Menschen schweres Unrecht darstellt.)

Jedoch habe ich gesundheitliche Probleme mit erheblichem Risikopotential, meinen Beruf nicht mehr ausüben zu können. Meine Frage an Sie, Frau Miller, lautet: Haben Sie Informationen über oder gar Kontakt zu Menschen, die Erfahrung mit der juristischen Aufarbeitung solcher Dinge haben? Gibt es Ihres Wissens da schon Präzedenzfälle oder Musterprozesse?

Am liebsten würde ich nämlich meinen Eltern die finanzielle Last des Risikos aufbürden. Mir ist ohnehin klar, dass sie mich enterben werden und mein unterwürfiger, schwuler Bruder alles kriegt. Der ist nämlich schon immer Mammis Liebling gewesen, dazu noch ein entsetzlich unehrlicher Mensch, – also kurz gesagt ein Idealkind für Nazi- und Stasi-Seelen. Ich hingegen war schon immer ein viel zu intelligenter Freidenker und deshalb für meine Eltern absolut unbrauchbar.

Strafrechtlich ist nichts mehr zu machen. Die Verjährungsfristen laufen ab Volljährigkeit des Opfers je nach Schwere der Vergehen. Da ist also mehr als 30 Jahre später nichts mehr zu machen. Aber es wäre zumindest theoretisch denkbar, auf zivilrechtlichem Weg spät erkannte Folgeschäden einzuklagen.

Mit freundlichen Grüßen,

E. C.

AM: Leider habe ich keine Erfahrungen mit solchen Klagen. Vielleicht kann Ihnen ein guter Anwalt einen sinnvollen Ratschlag geben. Voraussetzung ist, dass Sie genau bei sich abklären, was Sie eigentlich möchten, welche Gefühle Sie leiten und was Sie daraus für sich erhoffen.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet