(M)eine wahre Geschichte

(M)eine wahre Geschichte
Saturday 10 November 2007

Lange, lange Zeit habe ich den Horror meiner Kindheit weitestgehend verdrängt.
Ich bin als jüngstes Kind mit zwei älteren Brüdern in einem evangelischen Pfarrhaus aufgewachsen.
Dass meine Mutter eiskalt war und mich als Kind gequält und geschlagen hat, war mir zumindest von den Fakten her klar. Was ich tatsächlich gelitten habe, kann ich nun mit einem wissenden Zeugen aufarbeiten und heilen. Meine Mutter hat das tägliche Ritual des Haare Kämmens und Frisierens zur Folter missbraucht. Sie zog mit der Bürste brutal an meinen – manchmal verfilzten – Haaren und flocht meine Zöpfe so fest, dass es wehtat. Wenn ich protestierte, hieß es „Schönheit muss leiden“ (ihr sadistisches Grinsen dabei werde ich nie vergessen), weshalb ich von da an erfolgreich versucht habe hässlich zu sein, um nicht leiden zu müssen… Erst in letzter Zeit kann ich meine weibliche Schönheit entdecken und genießen. Doch das Trauma meiner Kopfhaut spüre ich immer noch. Es kommt mir vor, als habe sie durch diese Folter (und durch unzärtliches, viel zu kräftiges „Kraulen“) „mein Hirn waschen“ und mir ihre Gedanken einpflanzen wollen. Sie hat mich außerdem ständig kritisiert, beschimpft, klein gemacht, ich war total eingeschüchtert. Ich habe das Gefühl, dass sie an mir ihren ganzen Hass ausgelassen hat. Sie hat mir Schuld für alles Mögliche eingeimpft, z.B. auch für ein Ekzem am Zeh, das sie seit meiner Geburt hatte.
Zu meinem Vater hatte ich immer ein gutes Verhältnis. Klar war ich als seine einzige auch seine „Lieblingstochter“, besonders umzärtelt…Nun habe ich mich vor einiger Zeit schmerzhaft daran erinnert, dass mein Vater mich bereits als Kleinkind vergewaltigt hat. Meine Brüder haben es ihm nachgetan. Womöglich hielten sie es für ein natürliches männliches Verhalten. Woher sollten sie es auch wissen, schließlich hat man hauptsächlich seinen Vater als Vorbild…mir wird langsam klar, dass ich in einem Irrenhaus ohne psychiatrisches Personal groß geworden bin. Dass dieses Irrenhaus gleichzeitig ein Pfarrhaus war, ist nur noch das I-Tüpfelchen.

Das alles steht in so krassem Kontrast zu dem Bild meiner Kindheit, das mir immer vermittelt wurde: dass ich eine schöne und sorgenfreie Kindheit gehabt hätte. Solch eine infame Lüge, besonders, wenn man es eigentlich wissen KÖNNTE, dass es nicht so war.
Ich bin sehr empört darüber, wie ein Vater so mit seiner Tochter umgehen kann. Und mindestens genauso schlimm ist es für mich, dass mein Vater als Pfarrer immer ein besonders großes moralisches Ansehen genoss. Ein Gutmensch wie er im Buche steht. Das war wahrscheinlich auch der Grund, warum ich erstmal überhaupt nicht auf ihn als Vergewaltiger gekommen bin.
Um diese himmelschreiende Ungerechtigkeit wenigstens wieder ein kleines bisschen zurechtzurücken (für eine Anzeige wegen Kindesmissbrauchs ist es bereits zu spät), habe ich meine gesamte Verwandtschaft per Brief über die Wahrheit meiner Kindheit informiert. Zu meiner großen Überraschung glaubten mir einige Cousinen und Cousins, auch da sie selbst unter dem Sadismus meines ältesten Bruders gelitten hatten. Von ihnen erfuhr ich auch, dass die komplette Verwandtschaft meinem Vater glaubt, der erwartungsgemäß leugnete. So konnte ich mich vor empörten Briefen von Tanten und meinen Eltern schützen und schickte sie ungeöffnet zurück. Sie empören sich über meinen Brief anstatt über die Ungerechtigkeit, die mir als Kind widerfahren ist! Verdrehte Welt!!!
Für mein verletztes Kind war diese Briefaktion ein Stück Rehabilitation. Nun führe ich mein eigenes Leben – weit weg auf einem anderen Stern.
Manchmal wundere ich mich, dass ich diesen Horror überhaupt überlebt habe. Ich kann es mir nur so erklären, dass mein mittlerer Bruder mein wissender und manchmal auch helfender Zeuge gewesen ist. Er war auch bei der ersten Vergewaltigung durch meinen Vater (da war ich 4 und er 7) dabei – heute ist er Fachanwalt für Familienrecht (!). Dennoch glaubt er nun nach der Aufdeckung lieber meinem Vater als mir. Diesen Bruder ziehen zu lassen, war besonders schmerzhaft für mich, hatte ich doch bis zuletzt geglaubt, dass er mir wenigstens JETZT beistehen würde. Fehlanzeige. Feigling.

Mit den verinnerlichten Eltern habe ich Tag für Tag zu kämpfen. Mir ist, als würden sie täglich eine Portion von ihrem giftigen Hass in mich hineinspritzen. Und wenn ich mich nicht regelmäßig entgifte, verschwinde ich im Nu im depressiven Nebel. Die wichtigste und wirksamste Entgiftung ist, meine Eltern – meist schriftlich – anzuklagen, sie zu beschimpfen und wegzujagen. Das gibt mir Kraft! Es kann sein, dass ich das noch mehrere Jahre machen muss, aber die Arbeit lohnt sich!
Bisher habe ich ÜBERlebt, nun LEBE ich!

Und hier noch einige buntgewürfelte Gedanken und Erkenntnisse:

Seit ich vor zweieinhalb Jahren den Kontakt zu meinen Eltern und Geschwistern abgebrochen habe, ist mein Immunsystem wieder voll und ganz intakt. Zeit meines Lebens war ich hochempfindlich für Erkältungskrankheiten, hatte als Kleinkind ständig Mittelohrentzündung und Mandelentzündung (bis mir die Mandeln rausoperiert wurden), später regelmäßig Bronchitis, Schnupfen, Halsschmerzen. Und nun bin ich extrem stabil was die Abwehr anbetrifft. Das hat mir gezeigt, dass dieser Schritt richtig und wichtig war.

Andere Erkenntnis: Wenn ich meine Elternkonflikte mit Ersatzpersonen (z.B. mit Personen im beruflichen Umfeld) austrage, dann ist das nicht nur vergeudete Zeit und Kraft, sondern schadet mir auch deshalb, weil mein Eltern durch die Verschiebung des Konflikts plötzlich wieder in besserem Licht dastehen und mein verletztes Kind sich wieder verkriecht.

Wer sein Kind schlägt oder anderweitig gewalttätig ist, vernichtet dessen Leben. Das ist gewissermaßen Mord auf Raten.

Selbsthass ist die schlimmste und am meisten verbreitete Krankheit. Sie ist nicht nur für den Menschen selbst, sondern auch für seine Umgebung schädlich.

Der Umgang mit Menschen, die ihre Kindheit verdrängen kostet mich ungeheuer viel Kraft und deshalb meide ich ihn, so gut es geht.
Es fühlt sich an wie ein Gift, das in mich hineinkriecht. Wenn ich von solch einem Menschen weggehe, mag ich mich plötzlich selbst nicht mehr, bin depressiv, habe Zukunftsängste. Wahrscheinlich reinszeniere ich dabei den Kontakt mit meinen giftigen Eltern und Geschwistern. Ich hoffe, dass ich eines Tages immun gegen dieses Gift bin.

Der Horror meiner Kindheit ist durchaus vergleichbar mit dem Horror in einem Konzentrationslager. Unfreiheit, Ausbeutung, Isolation, Schikane, Ausweglosigkeit, Gewalt, Todesangst (wenn man als Kind vergewaltigt wird, denkt man, man wird umgebracht, das wird man seelisch auch), Depression.
Was bei meiner Kindheit noch dazu kommt: ich konnte mit NIEMANDEM über die schlimmsten Gewalterfahrungen reden, nicht mal mit meinem manchmal helfenden Bruder, und somit meine Würde wiedererlangen.
Ich war also gewissermaßen alleine in einem Konzentrationslager.

Zum Buch „Dein gerettetes Leben“:
Das Lesen hat mich sehr gestärkt. Die Definitionen z.B. über Grausamkeit sind super auf den Punkt gebracht.
Besonders eindringlich war für mich das „Tagebuch einer Mutter“:
Ihr anfängliches Klammern an der Tochter konnte ich kaum ertragen. Sehr toll geschrieben und nachvollziehbar ist dann ihr eigener Bewusstwerdungsprozess. Erleichternd für mich als Leserin dann ihre Erkenntnis, dass sie ihre Tochter in Ruhe lassen kann und sich stattdessen lieber um ihre eigene Kindheitsaufarbeitung kümmert.
Diese Geschichte zeigt, wie sich familiäre Verstrickungen lösen lassen.

Ich danke Ihnen, Frau Miller, für Ihre unermüdliche Aufklärungsarbeit.
Ja, es IST notwendig, immer und immer wieder auf die Ungerechtigkeiten und die Mechanismen, die dazu führen, hinzuweisen. Gegen Gift hilft nur stetig Gegengift.

Meiner Ansicht nach hätten Sie den Friedensnobelpreis längst verdient.

Mit herzlichen Grüßen, K. B.

AM: Ich danke Ihnen sehr für Ihren klaren und mutigen Brief. Ja, Sie sind ALLEIN in einem Konzentrationslager aufgewachsen, und es ist ein Wunder, dass Sie so viel Bewusstheit und Wahrhaftigkeit retten konnten. Das Schreiben der Briefe scheint Ihre sehr wirksame Entgiftungskur zu sein. Ihr Immunsystem hat prompt darauf reagiert, der Körper hat verstanden, und das ist die Hauptsache.
Ihre Zeilen über mein Buch enthalten einen Gedanken, der mir irgendwie neu war: dass nämlich die Arbeit an seiner Kindheit von nur einer Person auch der ganzen Familie dienen kann, wenn diese das will. In Ihrem Fall ist das kaum zu erwarten, aber Ihnen kann das sicher helfen. Es würde mich freuen, wenn Sie Ihre Gedanken zu meinem neuen Buch als Leserrezension im Amazon publizieren wollten, zur Anregung für andere.
Die Leugnung Ihres Bruders muss sehr schmerzhaft für Sie gewesen sein, er wird alles tun, um den Vater zu schützen. Doch Sie haben Ihre Wahrheit gefunden, und diese lassen Sie sich nicht mehr nehmen. Zum Glück.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet