Weshalb Wut?

Weshalb Wut?
Sunday 20 December 2009

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Sehr geehrte Frau Doktor Miller,
Sie schreiben: “Ich habe neulich einen Brief erhalten, den ich nur direkt beantwortet habe, weil er sich nicht zur Publikation eignet, er ist zu verwirrend, aber er zeigt, wie schwer sich manche Therapeuten mit meinem Vorschlag tun, die Wut in der Therapie zuzulassen. Sie meinen, die heilende Wirkung besitzt der Schmerz und nicht die Wut“.

Aber warum ist das so? Wenn uns ein Unrecht angetan wird, dann fühlen wir zuerst den Schmerz, wenn wir geschlagen werden ebenso, danach, wenn der Schmerz vorüber geht, dann wird uns die Ungeheurlichkeit des
Unrechts bewußt, dass uns soetwas angetan wurde und deshalb fühlen wir Wut oder gar Empörung, das ist
die Logik der Gefühle, die sich nicht um die Moral kümmert (siehe Revolte des Körpers)!

Wenn wir den Schmerz fühlen und uns das Unrecht bewußt wird, dann muß die Wut folgen, die diesen Vorgang zum Abschluß bringt und dann können wir diese Erfahrung in unsere seelische Struktur einfügen und sie irgend-
wann vergessen oder als eine von uns gemachte Erfahrung nutzen. So verstehe ich Ihre Worte wenn Sie schreiben: “Der berechtigte Zorn öffnet nachweisbar die Türen zum eigenen Mut und damit zur emotionalen Ehrlichkeit. Der Schmerz allein tut dies nicht, wenn er den Zorn leugnet.”

Warum ist nur der Schmerz gesellschaftlich anerkannt und nicht die Wut? Der kluge Leserbrief “Selbstachtung“
(12. Dezember 2008) zeigt eindeutig das Leid und Schmerz an die nächste Generation weitergegeben werden kann.
Wenn wir leiden, dann können wir uns “selbst aufwerten“ und das Leid kann uns dann “adeln“, wenn wir damit
sogar “hausieren gehen“, dann können wir unsere ganze Selbstachtung darauf aufbauen, gerade weil wir für unser
Leid (sogar von unseren eigenen Kindern!) “anerkannt“ werden, Mitleid erhalten, damit also endlich “beachtet“ bzw. “anerkannt“ oder überhaupt “gesehen“ werden. Aber wem soll das nützen wenn wir wie im Leserbrief beschrieben “Heilige“ werden, uns abfinden, nie wütend werden (…) die Wut ist trotzdem da, sie entläd sich dann eben gegen andere Menschen oder wir können sie dann wieder in unsere Kinder hineinschlagen (oder
hineinschlagen lassen!). Im Interesse der zukünftigen Generationen müssen wir endlich mit diesem Irrsinn aufhören! Kinder wollen doch keine heiligen, sondern ehrliche, kluge und mutige Eltern, die ihnen Schutz
Orientierung und menschliche Wärme bzw. Liebe bieten können!

“Eine qualvolle Kindheit verlangt unserem Körper sehr viel Kraft zum Überleben ab, unser Körper hat ein Leiden ausgedrückt in seiner ureigensten Sprache, damit unsere Eltern, Verwandten, Lehrer, Freunde (…) endlich hinsehen und die Grausamkeit die uns täglich angetan wurde endlich wahrnehmen, uns helfen und trösten sowie der Tatsache ins Auge blicken können, hier sind (kleine) Menschen die tagtäglich unmenschlich
behandelt werden, das Leid war so unerträglich das wir krank werden mußten, körperlich krank um eine solche schreckliche Zeit überhaupt überleben zu können. Die wohl schmerzhafteste Tatsache wird bleiben, wir haben unerträglich leiden müssen, nun möchten wir das unser Leid anerkannt wird, von den Tätern (Eltern) die uns dieses Leid einst ohne jedes Mitgefühl angetan haben. Es ist grausam so leiden zu müssen und noch grausamer
für uns gewesen, das dieses Leiden offensichtlich “nicht existiert“ hat. Es wäre eine Art “Wiedergutmachung“ wenn das Leid welches für unsere Eltern doch hätte sichtbar sein müssen, als ein solches anerkannt würde! Deshalb leiden wir auch heute noch so schrecklich und jede Begegnung mit den “Tätern“ erinnert uns daran
das unser Leid für unsere Eltern nicht existiert hat, es ist das was wir vielleicht auch früher so empfunden
haben, das wir unwichtig oder irgendwie “unsichtbar“ sind, was wir auch sagten, es wurde nie richtig
“gehört“ oder “verstanden“, was wir fühlten “abgetan“ als bloße “Einbildung“ (…)“ (mein Leserbrief an Sie
vom Dezember 2008).

Nun stellt sich heraus das das was wir fühlten eben keine bloße “Einbildung“ war und wir auch nicht hätten krank werden müssen, niemand unser Leid gesehen noch geholfen, sondern uns verraten, betrogen und uns
dafür auch noch die Schuld gegeben hat! Diese ungeheuerliche Lebenslüge der wir “aufgesessen sind“, dass
wir uns die Liebe “verdienen“ können (…), man hat unsere Unschuld ausgebeutet und der Schmerz den wir
jetzt fühlen müssen, dieser Schmerz ist wirklich unendlich aber wenn wir den Verrat erkennen, dann werden
wir auch wütend auf die Personen die uns das angetan haben, ungestraft, gleichgültig, manchmal sogar mit großer sadistischer Freude, die sich hinter Heuchelei versteckte…

Angesichts eines solchen Betruges, einer solchen ungeheuren Lebenslüge, eines solchen Unrechts muß Wut
auf die Täter (Eltern) erfolgen und sie verschafft uns auch (jedenfalls mir) große Erleichterung, sie heilt und
sie ist absolut konstruktiv, wenn wir sie nicht an unschuldigen Kindern bzw. Sündenböcken auslassen, sondern
dahin richten, wo sie hingehört! Ich möchte Sie mit diesem Brief unterstützen weil Sie recht haben wenn Sie
die heilende Wirkung der Wut immer wieder hervorheben!
ML

AM: Vielen Dank für Ihren Brief. Sie haben meine kurzen Andeutungen noch weiter ausgeführt, vertieft und geklärt. Ja, zum Beispiel als leidende Mutter können wir leicht Mitleid und Hilfe (vor allem bei den eigenen Kindern) ernten. Wir können uns als Heilige stilisieren und den unterdrückten Zorn hinter den erziehersichen “Massnahmen” verbergen. Dort ist er ja angebracht, in allen Formen des Sadismus.
Mit den Schmerzen ist man weniger angreifbar als mit der offenen Wut auf die eigenen Eltern, die man sich gar nicht zugesteht – aus Angst vor deren Strafe. Nur der berechtigte Zorn auf die wirklichen Verursacher unserer Not ist verboten und macht fast allen Menschen angst, weil er so früh bestraft wurde und so tief im Körper verborgen bleibt. Ich bin froh, dass Sie hier aus Ihrer eigenen Erfahrung berichtet haben, das klingt sehr überzeugend.

Ein neues Buch von Alice Miller, Jenseits der Tabus, 2009, exclusiv im Internet